Karussell der Kulturen – Systemisch-interkulturelle Arbeit in der Einwanderungsgesellschaft

Ein Bericht über die DGSF-Jahrestagung 14.-16.09.2023 in Wiesbaden - erstellt von Carla Ortmann und Birgit Averbeck.

Vom 14.-16.09.2023 lud der Lernplanet in die hessische Landeshauptstadt, in das „schönstes Kurhaus der Welt“ zur wissenschaftlichen Jahrestagung der DGSF ein.

Es fühlte sich wie Urlaub an, bei schönstem Wetter über den Kurhausvorplatz begleitet von dem Plätschern des Springbrunnens zu schlendern. Ebenfalls eine beeindruckende Kulisse und tolle Akustik bot der Friedrich-von-Thiersch-Saal, in welchem die Tagung eröffnet wurde. Unter dem Motto „Karussell der Kulturen“ trafen sich Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie e. V., Kooperationspartner*innen und am Thema Interessierte, um in Wiesbaden kulturelle Unterschiedlichkeiten der beraterischen und therapeutischen Arbeit kennenzulernen und zu würdigen, eigene Haltungen zu reflektieren und sich motiviert zu begegnen!

So wurden die Besucher*innen der Jahrestagung in den drei Tagen auf eine informative, künstlerisch, musikalische und lern- und erfahrungsorientierte Karussellfahrt eingeladen, die in Zeiten der Globalisierung, der interkulturellen Veränderung und der aktuellen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen wichtiger denn je ist!

Klare Worte wurden bereits in den Grüßen von Kai Klose, dem Minister des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration und der Stadträtin Milena Löbcke gefunden. So positionieren sie sich aus verschiedenen Perspektiven klar gegen Diskriminierung, Hass und Ausgrenzung forderten dazu auf, einander offen und vorurteilsfrei zu begegnen.

Weitere Grußworte der Vorstandsvorsitzenden Dr. Astrid Beermann und Prof. Dr. Matthias Ochs, der Systemischen Gesellschaft durch Sebastian Baumann und der europäischen Familientherapievereinigung (EFTA) folgten. Nach einer Würdigung des verstorbenen langjährigen Vorstandsvorsitzenden der DGSF, Dr. Jochen Schweitzer-Rothers durch Michaela Herchenhan und den Veranstalter Dr. Benjamin Bulgay sowie mit einer Videobotschaft seines Freundes und fachlichen Wegbegleiters Prof. Dr. Arist v. Schlippe eröffnete Dr. Benjamin Bulgay mit einer humorvollen, metaphorischen Einführung zu Basics interkultureller Arbeit den ersten Fachtag.

Prof. Dr. Astride Vehlo betont danach in ihrem Hauptvortrag die Wichtigkeit des Themas der Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen, Auswirkungen auf den eigenen Selbstwert und psychische Konsequenzen und stellt die spannende Frage, wie wir aus einer systemischen Perspektive mit Neutralität und Allparteilichkeit im Angesicht von Rassismus umgehen.

Empowernd und voller Esprit eröffnet in dem Hauptvortrag Dr. Auma Obama als Speakerin den nächsten Talk. Sie betont die Notwendigkeit einer gelingenden interkulturellen Gesellschaft in einer globalisierten Welt, in welcher Krieg, Flucht und wirtschaftliche Zusammenhänge ein grenzenübergreifendes Leben und Miteinander notwendig machen, und spricht sich gegen Ängste und Abgrenzung durch Aufklärung aus.

In ihrem Vortrag schafft Dr. Celia J. Falicov einen multidimensionalen kulturvergleichenden Rahmen und zeigt systemische Perspektiven auf, Menschen mit Migrationshintergrund und Fluchterfahrung zu empowern. Ihr Ziel ist es, Kultur in den Mainstream allen Denkens, Lehrens und Lernens in der Familientherapie zu nehmen, was die Selbstreflexion in Bezug auf die eigene kulturelle Herkunft und Prägung einschließt.

Dr. Reenee Singh ist auf die Begleitung interkultureller Paare spezialisiert. Was bedeutet es zum Beispiel, Liebe nicht in der eigenen Muttersprache ausdrücken zu können? Oder ein Zuhause zu kreieren, in welchem Menschen die eigene kulturelle Identität wiederfinden und sich begegnen können?

Viele Eindrücke, Input, Wissen, Emotionen und Erfahrungen bot dieser erste Vormittag der Tagung, dies wurde am Nachmittag in unterschiedlichsten, diversen Workshops fortgesetzt.
Hier wurden austausch- und erfahrungsbasiert unterschiedlichste Themen behandelt, über offene und geschlossene Räume diskutiert, das Eigene und das Fremde besprochen, Kultur und Gesellschaft ergründet, Chancen und Grenzen von Migration auf unterschiedlichsten Ebenen beleuchtet, gemeinsam meditiert oder heiteres Scheitern improvisiert.

Herausfordernd war an diesem ersten Tag die Zeitstruktur. Das Karussell drehte sich am Vormittag mit den vier Vorträgen ohne Pausen zum Denken und Erfassen so schnell, dass sich bei manchem/r Teilnehmer*in auch der Kopf drehte. Für die letzten beiden fachlich sehr guten englischen Vorträge war es ein wenig schade, dass die Aufnahmekapazitäten einfach begrenzt sind.

Am Donnerstagabend kam auch die innerverbandliche Ebene nicht zu kurz. So trafen sich viele Fachgruppen und Netzwerke der DGSF und luden Interessierte und Mitglieder zu anregendem Austausch und arbeiten bei. Eine Aufnahme des beliebten systemischen Podcast „Nicht wahr, aber nutzbar“, wurde zeitgleich im Foyer der Tagung aufgenommen, was durchaus viele Tagungsteilnehmer*innen wünschen ließ, man möge sich teilen können.

Auch der 2. Veranstaltungstag war voll gespickt mit vier Hauptvorträgen, 23 Workshops und dem traditionellen, fulminanten Tagungsfest, im Rahmen dessen auch der 30. Geburtstag des Lern-Planeten gebührend gefeiert wurde. Aber reduzieren wir mal die Geschwindigkeit des Karussells an diesem Tag und werfen einen Blick auf die einzelnen Highlights.

Im 1. Hauptvortrag ging es um die interdisziplinäre und systemische Versorgung von jungen Menschen und Familien mit Flucht Erfahrung in Erstaufnahmeunterkünften. Dr. Andrea Hahnefeld und Prof. Dr. Matthias Klosinski beschrieben praxisnah die Notwendigkeiten und Bestandteile integrierter Versorgungskonzepte in den Einrichtungen. Erforderlich für die Umsetzung sind Schulungen der Fach- und Betreuungskräfte zu interkultureller Kompetenz und der Einsatz qualifizierter Dolmetscher*innen. Kurzfristige, unvorbereitete Verlegungen von Familien stellen ein großes Problem dar, da begonnene Entwicklungsprozesse abgebrochen und Retraumatisierungen aktiviert werden können. Hier besteht aus unserer Sicht politischer Handlungsbedarf!

Im Rahmen des 2. Hauptvortrag hinterfragte Prof. Dr. Kirsten Nazarkiewicz Alltagssituationen kultursensibel und benutzt dabei die schöne Metapher des Kaleidoskops. Sie stellte in ihrem lebendigen Vortrag einen kulturreflexiven Ansatz als Herangehensweise vor, gute Beziehungen, Gemeinsamkeiten und Normalitäten als Kernelemente interkultureller Kompetenz zu leben. Dabei ging es um eine bunte, systemisch-konstruktivistische Perspektivenvielfalt in der Arbeit mit Menschen unterschiedlicher Kulturen, in deren Fokus die drei Fragen „Was verstehe ich?“ „Wer könnte ausgeschlossen sein?“ und „Was wissen wir alles nicht (und suchen trotzdem nach Gemeinsamkeiten)?“ stehen.

To become visible – „Schöne“ Literatur für die systemisch-interkulturell Beratung und Therapie, dieser 3. Hauptvortrag am Vormittag hat viele der Besucher*innen auf besondere Weise berührt. Prof. Dr. Barbara Bräutigam nutzte die Erkenntnisse über Literatur als einem Brückenmedium, das individuelle Gefühls- und Gedankenwelten in Sprache übersetzt und Geschichten erzählt. In ihrem Vortrag ist es ihr gelungen, durch die Auswahl an kurzen Zitaten aus fünf literarischen Werken spürbar werden zu lassen, dass Literatur zu einem besseren Fremdverstehen führen kann. Barbara Bräuigam resümiert, dass Literatur die Auswirkungen von Flucht, Rassismus und Migration nicht in Zahlen und Bildern sondern in subjektiven Schilderungen von Menschen sichtbar macht, identifikatorische Momente der Leser*in fördert und die sich einschleichende Dichotomie von „uns“ und „den anderen“ verstört.

Ahmad Mansour als 4. Vortragender des vormittags beschäftigte sich in seinem engagierten, vollkommen frei gesprochenen, politischen Beitrag mit der Frage „Integration – wie schaffen wir das?“ Im Fokus stand die klare Botschaft, dass das emotionale Ankommen von geflüchteten und eingewanderten Menschen in Deutschland die Voraussetzung für  Integration ist. Begegnungen auf verschiedenen Ebenen sind das einzig wirksame Mittel, die Spaltung einer Gesellschaft zu verhindern, wobei zugewanderte und geflüchtete Menschen selbst auch eine Verantwortung zur Integration tragen. Hier habe das Bildungssystem eine wichtige Bedeutung. Schulen und Kitas müssen zu Orten der Entwicklung von Dialog und Empathie zwischen den Kulturen werden, Bildung, Teilhabe und Perspektiven von Kindern dürfen dabei nicht von Postleitzahlen abhängen. Sein Appell, der mit viel Beifall unterstützt wurde: Wir haben die Strahlkraft, Menschen über Begegnungen für die Demokratie zu begeistern, aber es gelingt nur mit der Bereitschaft, als Mehrheitsgesellschaft keine Symbolpolitik zu betreiben sondern Alltag zu teilen.

Nach dieser fachlich-intellektuellen Karussellfahrt am Vormittag bot der Nachmittag den Teilnehmenden viele Möglichkeiten der aktiven eigenen Auseinandersetzung mit Fachthemen in 23 Workshops, konzipiert und durchgeführt von DGSF-Mitgliedern. Das Finden mancher Räumlichkeiten war dabei ein wenig herausfordernd, was aber wiederum -durchaus zum Thema der Tagung passend - zu Kontakten mit bisher fremden Menschen und zu einem gemeinsamen Suchen einlud.

Der Freitag endete mit einem rauschenden Tagungsfest in dem beeindruckenden Friedrich-von Thiersch-Saal des Kurhauses mit einem 3-Gänge-Menue, einem Comedian und zwei wunderbaren Livebands mit lateinamerikanischen Klängen und Rock und Pop aus vielen Ländern. Die DGSF tanzte mit Lust und Freude bis Samstagmorgen in die Zukunft! Es war ein Tagungs- aber auch ein Geburtstagsfest, denn der Lern-Planet als ausrichtendes Tagungsinstitut wurde 30 Jahre. Die DGSF gratulierte Benjamin Bulgay und seinem ganzen Team mit einer riesigen Torte.

Der Samstagmorgen hielt dann noch drei Vorträge vor. Prof. Dr. Michael May beschäftigte sich mit dem Passungsverhältnis zwischen verschiedenen Beratungsstilen und unterschiedlichen Erwartungen an eine Beratung. Dabei identifizierte er fünf (nicht stereotype) Beratungstypen und stellte verschiedene Passungen und Nichtpassungen und ihre Bedeutungen für die Praxis gegenüber. Soziokulturelle Unterschiede gäbe es, aber keine ethischen, fand er heraus. Prof. Dr. Matthias Ochs und Prof. Dr. Dirk Rohr blickten aus verschiedenen Perspektiven auf die beeindruckenden Entwicklungen und Dynamiken des systemischen (Forschungs-)Feldes. Matthias Ochs betonte die Bedeutung der Multiprofessionalität und interdisziplinären Prävention im Bereich Mental Health und schlug einen weiten Bogen von der deutschen Studienlandschaft hin zu Studien und Entwicklungen in internationalen Fachverbänden, Dirk Rohr fokussierte Veränderungspotentiale und Perspektiven insbesondere der systemischen Beratung im Kontext von gesellschaftlich problematischen Entwicklungen und appellierte an die Anwesenden, sich selbst mit in den fachpolitischen Prozess der Gestaltung kontextueller Bedingungen qualifizierter systemischer Beratung und Therapie einzubringen.

Im letzten Akt der Tagung wurde nach den Vorträgen der mit 3.000 Euro dotierte Systemische Forschungspreis von DGSF und SG an Bernhild Pfautsch für ihre Dissertation „Systemische Familientherapie in Kambodscha – Eine empirische Untersuchung zu Aspekten kultureller und kontextueller Passung für die Entwicklung einer Weiterbildung“ vergeben. Danach erfolgte die die Verleihung des Gütesiegels „DGSF-empfohlene systemisch-familienorientiert arbeitende Einrichtung“ an die Tagesklinik für Kinder-/Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Mathias-Stiftung, Rheine, sowie an die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Zentrums für Psychiatrie Südwürttemberg, Wangen.

So endete das „Karussell der Kulturen“ am Samstagmittag mit einem großen Dank des DGSF-Vorstands an Benjamin Bulgay, Lena Hirner, Tanja Stein, Mareike Nebel und das ganze Team des Lern-Planeten für die Organisation dieser bunten Fachtagung mit vielen Begegnungsräumen, Vorträgen und Workshops. Zurück bleiben bei uns viele neue Gedanken und Impulse für die fachliche und fachpolitische Weiterarbeit, konstruktive Irritationen, die zum Handeln anregen und das Gefühl der Leichtigkeit und Zuversicht beim Tanz in der „systemischen Familie“!

Bericht: Birgit Averbeck und Carla Ortmann