Prof. Dr. Jürgen Kriz zum 80. Geburtstag
Jürgen Kriz feierte am 5. Dezember 2024 seinen 80. Geburtstag. Er hat wesentlich zur systemtheoretischen und empirischen Fundierung des systemischen Ansatzes sowie als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie zur berufs- und sozialrechtlichen Anerkennung systemischer Psychotherapie beigetragen.
Auch wenn die wissenschaftliche, akademische und Psychotherapie bezogene Bedeutung von Jürgen Kriz selbstredend weit über das systemische Feld hinaus geht (alleine 11 Ehrungen seiner Person werden in seinem Wikipedia-Eintrag aufgeführt, u. a. das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2020), so möchte ich versuchen, anläßlich seines 80ten Geburtstags einige Aspekte seiner Relevanz für jenen Ausschnitt seins vielfältigen Wirkens ein wenig nachzuzeichnen.
Jürgen hat zunächst Wesentliches beigetragen zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen des systemischen Ansatzes: Gemeinsam mit etwa Ewald Johannes Brunner, Günter Schiepek und Wolfgang Tschacher hat er bereits Ende der 80er/ Anfang der 90er Jahre daran gearbeitet, die aus der Laserphysik stammenden synergetische Systemtheorie als strukturwissenschaftlichen Entwurf, der beansprucht, disziplinen- und gegenstandsübergreifend selbstorganisierte Homöo- und Heterostase in komplexen Systemen mit wenigen Theoriebausteinen konzeptualisieren zu können, für die Psychologie und Psychotherapie nutzbar zu machen; exemplarisch und immer noch grundlegend hierfür sind Schiepek, Tschacher & Brunner (1992), Kriz (1993) sowie Tschacher & Kriz (2017). Die Verbindung der Synergetik zu den gestaltpsychologischen Wahrnehmungs- und Erkenntniskalkülen der ersten Hälfte des 20ten Jahrhunderts (auch wenn etwa Wolfgang Metzger noch bis in die 60er Jahre in Frankfurt/Münster wirkte) war für diese illustre, kongeniale und kreative Gruppe schnell ersichtlich. Besonders hervorzuheben sind hier die Experimente, die in der Arbeitsgruppe von Jürgen Kriz durchgeführt wurden, die auf dem iterativen Musterbildungskalkül des klassischen Bartlett-Szenarios aus dem Jahr 1932 (benannt nach dem britischen Gestalt- und Kognitionspsychologen Frederic Charles Bartlett) basieren (zusammengefasst in Kriz, 2000).
Parallel zu diesen systemisch-forscherischen Unterfangen hat sich der systemische Ansatz in den 90er Jahren weiter in der Praxis der psychosozialen und arbeitsweltlichen Beratung und vor allem im Kontext der Psychotherapie verbreitet, so dass auch die sozialrechtliche Anerkennung der systemischen Psychotherapie bereits im Zusammenhang des In-Kraft-Tretens des ersten Psychotherapeutengesetz 1999 zur Debatte stand (man denke etwa an die erste Expertise zur Systemischen Therapie von Schiepek (1999).
Jürgen Kriz hat sich in der Zeit seines Wirkens als Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie nicht nur für die berufsrechtliche Anerkennung der humanistischen, sondern auch der systemischen Psychotherapie eingesetzt. So ist es u. a. ihm mitzuverdanken, dass diese für die systemische Psychotherapie 2008 erfolgte. Dass der humanistischen Psychotherapie selbige 2017 verweigert wurde, kann ihn unter Umständen noch heute empören, da er hierfür eher interessengeleitete und weniger wissenschaftlich nachvollziehbare und umsichtige Erwägungen am Wirken ausmachte (Kriz, 2018). Denn die psychotherapeutische Verfahrensvielfalt war und ist ihm nicht nur aus grundsätzlich wissenschaftlicher Erwägung, die etwa eine Ablehnung einer quasi fehlgeleiteten Engführung von Evidenzbasierung in der Psychotherapie in Richtung von ausschließlich Manualisierung, Störungsspezifität und RCT-Studien beinhaltet, eine bedeutsame Angelegenheit, sondern auch wie man sagen kann ein Herzensanliegen: So entwickelte er etwa ein Vier-Säulen-Modell (Kriz, 2009) wissenschaftlich anerkannter Psychotherapie-Verfahren (psychodynamisch, behavioral, humanistisch, systemisch), das Grundlage für ein umfassendes und angemessenes Verständnis der menschlichen Psyche und der Behandlung ihrer Störungen darstellen soll. So verwundert es nicht, dass er in seinem eigenen umfassenderen theoretischen Entwurf, nämlich der personzentrierten Systemtheorie, verschiedene psychotherapeutische Perspektiven, nämlich humanistische und systemische, überzeugend zusammenführt (Kriz, 2017).
Im systemischen Feld war und ist Jürgen seit vielen, vielen Jahren weiterhin ein sehr gefragter Dozent und Vortragender. Dies ist u. a. darin begründet, dass er einerseits eine profunde und differenzierte Kritik an einem medizinischen Modell von Psychotherapie zugunsten von einem kontextuellen, das auch dem systemischen Ansatz eher entspricht, formulieren (Ochs und Kriz, 2020), und dass er andererseits eine wunderbare Übersetzungsleistung der Theorien dynamischer Systeme wie der Synergetik in die konkrete beraterische Praxis leisten kann. Darüber hinaus erscheint seine erwähnte Perspektive der Verfahrensvielfalt synchron zur systemischen Perspektivvielfalt, die postuliert, dass sich einem angemessenen Verstehen immer nur durch eine Verschränkung vielfältiger Positionen und Stimmen (Polyphonie) angenähert werden kann, und dass durch das Aufspannen selbiger immer ein Mehrwert generiert sowie ein Unterschied erzeugt wird, der einen Unterschied macht.
In diesem Sinne ist dem systemischen Feld sehr zu wünschen, dass Jürgen Kriz selbigem noch lange in seiner intellektuellen Schärfe, humanistischen Haltung und angenehmer Freundlichkeit erhalten bleibt!
Matthias Ochs
Archivbild: Ordensverleihung – Professor Dr. Jürgen Kriz erhält 2020 das Bundesverdienstkreuz (Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland) für seinen Einsatz für die Förderung und die wissenschaftliche Anerkennung der Humanistischen Psychotherapie in Deutschland sowie die konsequente Umsetzung humanistischer Werte.
Foto: Swaantje Hehmann
Literatur
Kriz, J. (1993). Pattern Formation in Complex Cognitive Processes. In H. Haken & A. Mikhailov (Hrsg.), Interdisciplinary Approaches to Nonlinear Complex Systems (S. 161–175). Berlin/Heidelberg/New York: Springer.
Kriz, J. (2000). Self-Organization of Cognitive and Interactional Processes. In M. Matthies, H. Malchow, & J. Kriz (Hrsg.), Integrative Systems Approaches to Natural and Social Dynamics: Systems Science 2000 (S. 517–537). Heidelberg: Springer.
Kriz, J. (2009). Vielfalt in der Psychotherapie: Das Vier-Säulen-Modell. Plädoyer, die internationale und stationäre Verfahrenspluralität auch in deutschen Praxen wieder zuzulassen. VPP-aktuell, 4-2009, S. 3-5
Kriz, J., & Tschacher, W. (Hrsg.). (2017). Synergetik als Ordner. Die strukturierende Wirkung der interdisziplinären Ideen Hermann Hakens. Lengerich: Pabst Science Publishers.
Kriz, J. (2017). Subjekt und Lebenswelt. Personzentrierte Systemtheorie für Psychotherapie, Beratung und Coaching. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Kriz, J. (2018). Gutachten zur Humanistischen Psychotherapie tendenziös und voller Mängel. Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung, 49, 1, 42-46
Ochs, M. & Kriz, J. (2022). Systemische (Psychotherapie-)Forschung. In: R. Hanswille (Hg.). Basiswissen Systemische Therapie. Gut vorbereitet in die Prüfung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S. 337 – 352
Tschacher, W., Schiepek, G., & Brunner, E.J. (Hrsg.) (1992)., Self-Organization and Clinical Psychology (S. 3–31). Berlin/Heidelberg/New York: Springer.