Nachruf auf Rosmarie Welter-Enderlin
Wir trauern um Rosmarie Welter-Enderlin (1935 - 2010)
Sozialarbeiterin, Sozialwissenschaftlerin, Familientherapeutin, Lehrtherapeutin, Begründerin des Ausbildungsinstituts Meilen/Schweiz, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der DGSF
„Die Kunst des Heilens ist verbunden mit professionellem Wissen, mit Respekt vor Patienten und Klienten, mit Optimismus und liebevollem Berühren: Reichen wir unseren Klienten selbstverständlich die Hand? Nur in der Verbindung der beiden Pole Wissen und Begegnung, also unserer wissenschaftlichen Erfahrung wie auch der Kunst der emotionalen Aufmerksamkeit, öffnen wir weite Horizonte für den therapeutischen Prozess. Dazu gehört immer auch unser Mut, Abgründe und Grenzen zu sehen.“ (aus einem Vortrag von Rosmarie Welter-Enderlin zum 20-jährigen ÖAS-Jubiläum in Wien 2006).
Rosmarie Welter-Enderlin starb am 4. April dieses Jahres im Alter von 75 Jahren. Seit den 70er Jahren prägte sie als Therapeutin, Ausbilderin und Dozentin maßgeblich die Entwicklung der Systemischen Therapie im deutschsprachigen Raum. Sie war Brückenbauerin zwischen wissenschaftlicher Präzision und menschlicher Begegnung, zwischen fachlicher Kontinuität und beherzten Aufbrüchen. Dabei überschritt sie häufig Grenzen des fachlichen Mainstreams und konfrontierte uns systemische Professionelle mit neuen Themen. Genderfragen, die Rolle der Affekte in einer eher kognitiv geprägten Therapie, der Respekt vor Lebensgeschichten, und die Berücksichtigung weiterer Kontexte, wie sie uns die Resilienzforschung aufzeigt: Mit diesen und weiteren Themen erweiterte sie sehr erfolgreich die Perspektiven der fachlichen Diskussion und schuf Raum für innovative Ansätze innerhalb der Systemischen Therapie. Rosmarie Welter-Enderlin studierte Sozialarbeit in Zürich und Sozialwissenschaften an der Universität Michigan. Als junge Frau ging sie mit ihrer Familie in die USA und lernte dort bei Salvador Minuchin und weiteren Pionieren der Familientherapie. Zurück in Europa spezialisierte sie sich auf die therapeutische Arbeit mit Paaren und Familien und gründete 1987 das Ausbildungsinstitut für systemische Therapie und Beratung in Meilen, welches sie bis 2005 leitete. In zahlreichen Büchern und Artikeln dokumentierte sie die Entwicklung ihres Denkens und Handelns und gab der systemischen Szene auch als Ausrichterin großer internationaler Kongresse richtungweisende Impulse. Sie wirkte als Lehrbeauftragte an der Universität Zürich und Mitherausgeberin der internationalen Fachzeitschrift „family process“. Nicht nur dadurch wird deutlich, wie weit sich der Wirkungskreis von Rosmarie Welter-Enderlin erstreckte: im Jahr wurde ihr von der American Family Therapy Academy, der Preis für herausragende Beiträge zur Theorie und Praxis der Familientherapie zugesprochen. In ihrer Arbeit grenzte sie sich stets ab gegen esoterische Strömungen in der Psychotherapie, ebenso wichtig war ihr die Grenze zwischen Alltag und Psychotherapie, lebenspraktische Phänomene zu psychologisieren lag ihr fern. Eines ihrer Anliegen war, soziologische und strukturelle Faktoren einzubeziehen, um den Kontext zu verstehen. Sie bewegte sich gerne "mit der Nase am Boden", wollte stets die Umgebung "riechen", die sie mit gestaltete. Das bedeutete zum Beispiel, sich bei der Arbeit mit einer Mehrgenerationen-Bauern-Familie intensive Unterstützung und Fachwssen von einem Agrarwissenschaftler zu holen. Sie probierte gerne aus, auch unabhängig von den ausgewiesenen Wegen auf der Landkarte. Rosmarie war ebenso klar in ihrer Kritik wie engagiert und zugewandt in ihrer Arbeit mit ihren Klienten. Es gelang ihr, die Menschen mit ihrer "Therapie als Begegnung" zu erreichen, sie setzte ihre Beziehungsfähigkeit in der therapeutischen Arbeit ein und schaffte so einen emotionalen Rahmen, in dem auch in schlechten Zeiten Gutes gedeihen konnte. Viele Familientherapeutinnen und systemische Berater verdanken ihr als Lehrerin den Weg in systemisches Denken und Handeln, viele Kolleginnen und Institutionen begleitete sie als Supervisorin, unzähligen Kollegen in Deutschland wird sie durch ihre Vorträge und Demonstrationen auf Kongressen und wissenschaftlichen Fachveranstaltungen unvergesslich bleiben. Der DGSF war sie seit der Gründung als Mitglied in unserem wissenschaftlichen Beirat verbunden. Mit Rosmarie Welter-Enderlin verliert die systemische Bewegung eine große Persönlichkeit. Ihre Geradlinigkeit, ihre Neugier auf neue Themen, ihre Skepsis gegenüber allem nur modischen und ihr Mut, dies anzusprechen und damit für neue Bewegung zu sorgen, wird uns fehlen. Die Erinnerung an Rosmarie Welter-Enderlin zu bewahren heißt auch, sie mit diesen Fähigkeiten als Vorbild in unser eigenes fachliches Handeln mitzunehmen. So bleibt lebendig, was sie uns gab.
Rainer Schwing