„Wohltätiger Zwang“ in der Psychiatrie?

Wann muss man jemanden vor sich selber schützen? Wie verhindert man aber, dass die Schutzmaßnahmen nicht schlimmer sind als das, vor dem sie schützen sollen? Ein schwieriges Thema, das in der Öffentlichen Anhörung des Deutschen Ethikrates zum Thema „Wohltätiger Zwang?“ beleuchtet wurde.

Fixierung, Isolierung, Zwangsmedikamentierung, Zwangseinweisung – unerfreuliche Maßnahmen, die PatientInnen potentiell (re)traumatisieren können. Zwangsmaßnahmen gehören zur Geschichte der Psychiatrie. Nach den Psychiatriereformen der vergangenen Jahrzehnte wurde in den letzten Jahren durch eine Reihe von Gerichtsurteilen die Anwendung von Zwangsmaßnahmen noch einmal erschwert. Trotzdem bleiben Situationen, in denen Zwangsmaßnahmen alternativlos erscheinen. Wann das der Fall ist, und wann nicht, das ist pauschal aber nicht zu entscheiden. Ist eine Einweisung nötig bei dem alten Mann mit Alkoholproblem, dessen Nachbarn sich über Gestank aus der Wohnung, Müll im Treppenhaus und nächtlichen Lärm beschweren, und dem deswegen Kündigung droht, die vermutlich zu Obdachlosigkeit führen würde? Braucht die Anorexie-Patientin, die sich ritzt und die Nahrung verweigert, einen Aufenthalt in der geschlossenen Psychiatrie mit Sondenernährung? Was tun mit dem Klinikpatienten, der schreit und mit dem Kopf gegen die Zimmerwand schlägt, während eine Nachtwache alleine für die ganze Station zuständig ist? Es ist schwer, zu unterscheiden, ob z.B. Verwahrlosung krankheitsbedingt ist, oder Ausdruck des freien Willens einer Person, der nur eben den Normvorstellungen der Umgebung zuwiderläuft. Wann ist eine Maßnahme nur nötig, weil ein Mensch sich auf eine Weise verhält, die gängigen Normvorstellungen widerspricht und Angehörige überfordert, aber niemanden direkt gefährdet? Und wird nicht oft, grade in Psychiatrien, Heimen und anderen geschlossenen Einrichtungen, eine Zwangsmaßnahme deswegen angewendet, weil eine zu knappe Personalausstattung  verhindert, dass PatientInnen durch direkten Kontakt, Zuwendung und Betreuung beruhigt werden können.

Wie umstritten das Thema ist, zeigte sich zu Beginn ein der Veranstaltung: ein PatientInnenverband empfing die Teilnehmenden mit einer Demonstration gegen den Ethikrat und einem Papier mit dem Titel „ein abgekartetes Spiel“, in dem jegliche Zwangsbehandlung als Folter bezeichnet und entsprechend abgelehnt wurde. Aber andere Betroffene berichteten während der Anhörung aber durchaus von „Hilfreichem Zwang“ – also von psychischen Ausnahmezuständen, in denen Eingriffe vielleicht längeres Leid verhindern. Besonders betont wurde aber die Frage, wie der Zwang ausgeübt wurde, und der Zwang überhaupt nötig geworden wäre, wären früher und anders eingegriffen worden – z.B. indem in einer Psychiatrie beruhigend mit der Patientin umgegangen wird, so dass Situationen rechtzeitig deeskaliert werden können. Insgesamt betonten alle angehörten ExpertInnen, dass Zwangsmaßnahmen nur dann eine Berechtigung haben, wenn alle anderen Maßnahmen ausgeschöpft sind. Dafür sind Zeit, Geld, menschliche Zuwendung und Kooperation zwischen verschiedenen Einrichtungen nötig – von all dem mehr, als vielfach zur Verfügung steht. Grundrechte haben ihren Preis. Selbst bei angemessener Finanzierung – von der man vielerorts weit entfernt ist (die einsame Nachtwache auf einer psychiatrischen Station kann natürlich nicht alle krisenhaften Situationen alleine lösen), bleibt ein ethisches Dilemma bestehen. Herausfinden, ob jemandem mit einer Zwangsbehandlung wirklich geholfen ist, ist immer eine Einzelfallentscheidung. Die setzt voraus, dass man sich individuell um PatientInnen bemüht, und ihnen die Möglichkeit gibt, soweit wie möglich auf Augenhöhe zu entscheiden. Dafür sind systemische Grundwerte hilfreich –darauf wies einer der anwesenden Sachverständigen, Gemeindepsychiater Dr. Detlev Gagel, ausdrücklich hin.

(Kerstin Dittrich)

Mehr Infos zur Anhörung: www.ethikrat.org/veranstaltungen/anhoerungen/psychiatrie