Systemische Sachverständigentätigkeit
"Das Ziel der Systemischen Begutachtung ist, den Eltern Handwerkszeug mitzugeben, damit sie Konflikte lösen können und das Gericht nicht brauchen."
Cordula Streich, Dipl. Kommunikationspsychologin und Systemische Therapeutin, hat langjährige Erfahrung als lösungsorientierte Sachverständige in Umgangs- und Sorgerechtsfällen für bundesweite Familiengerichte. Nun ist sie auch Lehrende am INSA-Berlin (Institut für systemisches Arbeiten) für die neue Weiterbildung Systemische Sachverständigentätigkeit im Familien- und Kindschaftsrecht. Es ist ein 1 1/2-jähriger Weiterbildungsgang, der nach den Richtlinienanforderungen der DGSF konzipiert ist. Zurzeit bieten zwei Institute deutschlandweit die Sachverständigen-Weiterbildung an, das INSA-Berlin und das IAGUS - Institut für Angewandte Gesundheits- und Systemwissenschaften.
(Foto: Cordula Streich)
Frau Streich, können Sie uns einen kurzen Überblick verschaffen, wie die Ausbildung am INSA-Berlin aufgebaut ist? Und was ist das Besondere daran?
Cordula Streich: Wie in anderen DGSF-zertifizierten Ausbildungen auch, ist es uns natürlich wichtig, eine theoretische Grundlage zu geben und das Ganze mit praktischen Erfahrungen zu verbinden. Wir ermöglichen Selbstreflexion und Supervision und dadurch persönliches Wachstum und Kompetenzerweiterung im Bereich der Systemischen Sachverständigentätigkeit. Die Weiterbildung dauert anderthalb Jahre, das sind 10 Seminarwochenenden. Natürlich findet auch parallel, analog zu den Berater- und Therapieweiterbildungen, Intervisionsgruppenarbeit statt. Das Besondere bei uns ist die systemische Praxis, die in Form von Hospitation umgesetzt werden kann. Das heißt: Wir sind ein Team, in dem alle im Sachverständigenkontext arbeiten und auch Hospitanten mitnehmen. Aktuell sind sieben Systemische Sachverständige im Team.
An wen richtet sich die Weiterbildung des INSA-Berlin und welche Qualifikationen müssen Bewerber*innen mitbringen?
Cordula Streich: Im § 163.1 FamFG.1 sind die Berufsqualifikation festgelegt, über die ein*e Sachverständige*r verfügen muss. Das ist eine pädagogische, sozialpädagogische, psychologische, psychotherapeutische oder Kinder- und Jugendpsychiatrische, psychiatrische, ärztliche Berufsqualifikation und darüber hinaus das DGSF-Zertifikat „Systemische Beratung“ oder „Systemische Therapie“. Es ist also keine Grundausbildung, sondern eine Aufbauausbildung.
Sie erwähnten bereits, dass die Teilnehmenden einen Praxisnachweis erbringen müssen und die Möglichkeit besteht, bei Systemischen Sachverständigen zu hospitieren. Was wird die Teilnehmenden in dieser Zeit erwarten? Und wie lange geht die Hospitation?
Cordula Streich: Die Hospitation kann vieles umfassen: Beispielsweise, sich erstmal den Inhalt einer Akte aneignen, das ist der Einstieg der Fallbearbeitung und notwendig für die Hypothesenbildung. Anschließend die Teilnahme und Mitwirkung bei Terminen. Wir arbeiten aufsuchend und fahren zu den Eltern nach Hause. Termine können Kindesexplorationen, gemeinsame Elterngespräche, Einzelgespräche mit einem Elternteil, Gespräche mit Jugendamtsmitarbeitern, mit Verfahrensbeistanden oder Anhörungstermine sein. Die Hospitation umfasst laut Curriculum 100 UE.
Welche Vorteile bietet die Systemische Sachverständigentätigkeit gegenüber der allgemeinen?
Cordula Streich: Ich erkläre das den Eltern gerne mit einer Metapher, damit sie eine Idee haben, was innerhalb einer Begutachtung auf sie zu kommt: Die klassische Begutachtung funktioniert wie der TÜV. Es kommt ein Prüfer, der sich anschaut, was am Auto kaputt ist und gibt Auskunft über die Defizite. Wir als Systemikerinnen arbeiten ein Stückweit bereits als Mechanikerin und suchen gemeinsam mit den Eltern die Stellschrauben, damit es für die Familie besser laufen kann und gucken, was es braucht, um Lösungen zu entwickeln. Im Idealfall sind die Eltern am Ende einer Begutachtung selbst die Mechaniker und wissen, was sie tun können, damit es für sie zukünftig funktioniert. Das Ziel der Systemischen Begutachtung ist, den Eltern Handwerkszeug mitzugeben, damit sie Konflikte lösen können und das Gericht nicht brauchen. Häufig funktioniert es, dass die Eltern wieder eine Lösungsidee entwickeln und daran glauben können und dürfen, dass es eine Veränderung gibt.
Die Gutachten werden von Gerichten in Auftrag gegeben. Suchen diese explizit nach Systemischen Gutachtern? Was sind die Erfahrungswerte von den Gerichten mit Systemischen Sachverständigen?
Cordula Streich: Tatsächlich gibt es jetzt schon viele Gerichte, die lösungsorientierte Sachverständige beauftragen. Das sind vor allem Richter*innen, die sich selbst weiterbilden in dem Bereich. Die Eltern sollen befähigt oder unterstützt werden, selbst eine Einigung zu finden. Dafür gibt es inzwischen auch eine Forschungslage, die aufzeigt, dass es nachhaltiger ist, wenn beide Eltern an der Lösung beteiligt waren. Und im besten Fall ein Konsens und im zweitbesten Fall ein Kompromiss schließen konnten. Dann ist das Ergebnis nachhaltiger und sie sind nicht alle Jahre wieder vor Gericht. Die Richter*innen merken, dass es langfristig eine Entlastung ist, wenn die Eltern ihre passende Lösung selbstständig erarbeitet haben.
In welchen Situationen werden Ihre Gutachten eingeholt? Gibt es eine klassische Konfliktsituation oder sind die immer sehr unterschiedlich?
Cordula Streich: Wir bekommen einen Auftrag mit einer gerichtlichen Fragestellung bezogen auf das Umgangs- oder Sorgerecht. Bspw. wie kann ein Umgang gut gestaltet sein? Selten ist es etwas kleinteiliger. Zum Beispiel: Auf welche Schule soll das Kind eingeschult werden? Es gibt aber durchaus auch Fälle, bei denen es um Kindeswohlgefährdung oder um die Erziehungsfähigkeit der Eltern. Dann geht es weniger um das Hinwirken auf Einvernehmen. Diese Verfahren sind dann von Amts wegen eingeleitet.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit den Eltern? Haben Sie es auch mit Eltern zu tun, die sich nicht gemeinsam an einen Tisch setzen wollen?
Cordula Streich: Diese Eltern gibt es. Die Begutachtung ist freiwillig (Außer von Amts wegen). Die Eltern nutzen die Termine in der Regel aber, weil sie in Not sind. Es geht letztlich um – genau wie in einer Beratung auch – Beziehungsaufbau. In der Regel werden zu Beginn Einzelgespräche geführt und in einem zweiten Schritt prüfen wir, ob es möglich ist, gemeinsame Gespräche zu führen. Das klappt in vielen Fällen, aber nicht in allen.
Wer entscheidet denn, ob mit den Kindern gesprochen werden kann?
Cordula Streich: Das ist tatsächlich Teil der Begutachtung. Es ist Standard, die Kinder einzubeziehen. Es kann für die Kinder eine entlastende Komponente sein, ihnen zu vermitteln: Ich bin hier als Unterstützerin, damit deine Eltern wieder eine Einigung finden. Es ist nicht in deiner Verantwortung, diesen Konflikt zu lösen. Viele Kinder haben eine übermäßige Verantwortlichkeit, wenn die Eltern im Konflikt sind. Die Kinder haben natürlich eine wichtige Rolle. Innerhalb der Begutachtung wird eine Idee entwickelt, was das Kind oder die Kinder möchte*n. Kann es eine Entlastung geben? Und wie kann die aussehen? Da ist es ganz wichtig auch eine Idee zu bekommen, wo das Kind grade steht.
Welchen Einfluss hat das Gutachten auf die Entscheidung der Gerichte in Umgangs- und Sorgerechtsfällen?
Cordula Streich: Sachverständige werden beauftragt, damit Richter*innen eine Grundlage für eine Entscheidung haben. Die Gerichte stützen sich also meist auf die Gutachten. Im besten Fall, kommt es gar nicht erst dazu, ein Gutachten zu verschriftlichen. Sondern es gibt eine einvernehmliche Lösung in Form einer schriftlichen Elternvereinbarung. Es gibt auch die Fälle, in denen ein mündliches Gutachten erstattet und im Anhörungstermin geprüft wird, ob sich die Eltern einigen.
In der Ausbildung werden auch Themen wie Gewalt und Verdacht auf sexuellen Missbrauch behandelt. Wie werden zukünftigen Sachverständige auf diese schweren Fälle vorbereitet?
Cordula Streich: Wir haben ein Seminarwochenende zu diesen Themen. Die zukünftigen Sachverständigen werden sensibilisiert und erhalten ein Grundlagenwissen. Das Wichtige ist, auch selber zu prüfen, wo die persönlichen Grenzen der eigenen Expertise liegen und wann gegebenenfalls externe Experten hinzugezogen werden sollten.
Welche Eigenschaften sind Ihrer Meinung nach elementar für die spätere Tätigkeit?
Cordula Streich: Eine gewisse Neugier, in die Familie zu gehen und auch die Dynamiken verstehen zu wollen. Allparteilichkeit und Verständnis sind wichtig. Gerade, wenn es um Trennungseltern geht, die sich in Konfliktschleifen befinden und versuchen, die Sachverständigen auf ihre Seite zu ziehen, ob bewusst oder unbewusst. Das meint die Fähigkeit, durch die Augen des Vaters, durch die Augen der Mutter und natürlich die des Kindes zu schauen. Natürlich ist auch die Reflexionsfähigkeit notwendig, über die eigenen Werte und Vorstellungen, was Familie betrifft und über die eigenen Familienmodelle, die man verinnerlicht hat. Das ist auch Thema in der Selbsterfahrung. Es braucht Offenheit und Flexibilität und Konfliktfähigkeit - weil Sachverständige mit Eltern arbeiten, die weinen, die schreien, die tieftraurig und verletzt sind.
Haben Sie ein positives Beispiel wo Sie dachten: „Oh, das wird schwierig“ und am Ende kam es zu einer Einigung?
Cordula Streich: Das ist sehr häufig der Fall. Obwohl ich selten mit der Idee reingehe: Das wird schwierig. Das wird eher von außen an uns Sachverständige herangetragen, beispielsweise wenn die Richter beauftragen. Häufig rufen die Richter und Richterinnen an und fragen: Haben Sie Kapazitäten? Und geben dann schonmal einen kleinen Einblick in den Fall. Es kommt schon öfter: „Für mich ist das ein aussichtloser Fall. Aber sie können ja mal schauen, ob sie was bewegen können.“ Ich habe aber gemerkt, dass die Einigungsquote doch sehr hoch ist. Die Eltern überraschen immer wieder. Eine Technik in der Systemik ist es, Hoffnung zu schaffen nach dem Motto: „Sie können mich nicht davon überzeugen, dass sie es nicht schaffen. Sie können sagen, was sie wollen. Sie werden mich nicht davon überzeugen, dass eine Einigung aussichtslos ist. „Da wo die Eltern aufgehört haben zu vertrauen, ist es gut, wenn die Sachverständigen an die Eltern glauben. Vielleicht ist das auch eine Fähigkeit, um auf die vorige Frage zurückzukommen, dass man die Hoffnung nicht verliert und denkt: Irgendwo wird eine Lösung liegen, auch wenn die gerade etwas versteckt scheint.
Wie startet man normalerweise in ein Gutachten?
Cordula Streich: Man bekommt die Akte mit der Beauftragung zugeschickt. Manche Richter*innen stellen die gerichtliche Frage detailliert, z.B. Wie ist die Beziehung zwischen Eltern und Kind? Wie kann der Umgang kindeswohldienlich gestaltet werden? Manche Richter*innen beauftragen ein familienpsychologisches Sachverständigengutachten zum Umgang. Die Informationen aus der Akte werden genutzt, um erste Hypothesen zu bilden und festzulegen, worauf der Fokus gelegt wird, um die Fragen zu beantworten. Anschließend werden Elterngespräche vereinbart und es erfolgt ein Telefonat mit Verfahrensbeteiligten, wie dem Verfahrensbeistand.
Das wird in der Weiterbildung auch anhand eines Beispiels gemacht?
Cordula Streich: Das wird anhand vieler Beispiels gemacht und durch praktische Anwendung unter Anleitung als Hospitant.
Wie viele Gutachten machen Sie ungefähr gleichzeitig?
Cordula Streich: Das bei uns im Sachverständigenpool tatsächlich ganz unterschiedlich. Es gibt einige Kollegen, die sind einerseits festangestellt und arbeiten nebenberuflich, selbstständig als Sachverständige. Die machen dann vielleicht 3-4 Gutachten parallel. Und es gibt Kollegen, die machen das schon seit Jahren hauptberuflich und die haben so 15-20 Gutachten parallel.
Wie lange dauert so eine Begutachtung, oder ist das auch sehr unterschiedlich?
Cordula Streich: Das wird am Anfang tatsächlich auch von den Gerichten festgelegt. Es dauert in der Regel 3 – 6 Monate. Es ist möglich, den Zeitraum zu verlängern, wenn es Gründe dafür gibt. Es gibt aber auch Fälle, in welchem ein Umgangsmodell getestet und nachbegutachtet wird. Beispielsweise haben die Eltern nach vier Monaten ein Modell erarbeitet, das anschließend 6 Monate getestet wird, die Begutachtung ruht in dieser Zeit und abschließend findet eine Nachbegutachtung statt, zu der Frage, inwieweit das erprobte Modell sich bewährt hat. Teilweise gehen Fälle über Jahre, aber ich als Sachverständige bin dann nicht die ganze Zeit involviert.
Auch hinsichtlich der Elterngespräche: Wenn ich von 3 – 6 Monate spreche, heißt das nicht, dass ich wöchentlich mit den Eltern zu tun habe. Am Anfang ein bisschen mehr, um die Familiendynamik zu verstehen und wenn in die gemeinsamen Gespräche starten, liegen auch mal 4 Wochen zwischen den Elterngesprächen, damit die Eltern Zeit haben, das Besprochene auszuprobieren.
Wie lange machen sie das selbst schon und was finden Sie das Attraktive an dem Job?
Cordula Streich: Ich selbst arbeite tatsächlich seit 2009 als Sachverständige. Ich bringe diese Neugier und diese Hoffnung mit. Ich sehe, dass es unglaublich entlastend ist für die Kinder und die Familien, sie dabei zu unterstützen, aus der konfliktbehafteten Dynamik auszusteigen und für die Kinder eine gute Lösung zu finden. Und ich habe natürlich die Hoffnung, den Kindern eine bessere Kindheit zu ermöglichen. Das ist mein innerer Antreiber. Es ist ein freies und ganz selbstständiges Arbeiten. Man bekommt die Beauftragung und kann sich selbst organisieren. Das Arbeiten ist außerdem vielseitig. Es ist auch zu erwähnen, dass der Stundensatz für Sachverständige am Familiengericht gesetzlich festgelegt ist. Die Bezahlung erfolgt zuverlässig. Man reicht die Rechnung ein und muss nicht nachfordern, wie das vielleicht in anderen Kontexten der Fall ist. Das ist auch attraktiv.
Und Sie meinten auch in unserem Vorgespräch, dass es Bedarf gibt an Gutachter*innen.
Cordula Streich: Ja - das hört man vielleicht auch da raus, wenn ich sage, dass die Richter erstmal nachfragen, ob man Kapazitäten hat. Es gibt nicht so viele Sachverständige und Systemische schon gar nicht, da die Ausbildung erst seit Kurzem von der DGSF zertifiziert ist. Gerade das Hinwirken auf Einvernehmen nimmt aber zu, weil die Richter merken, dass es längerfristig funktioniert und es nachhaltiger ist. Deshalb ist der Bedarf an Systemischen Sachverständige hoch.
Welche Optionen haben Absolvent*innen nach dem Abschluss?
Cordula Streich: Die Absolvent*innen können natürlich a direkt als Sachverständige für Familiengericht arbeiten. Womöglich ist die Weiterbildung auch für Kollegen, die als Verfahrensbeistände oder Umgangspfleger arbeiten interessant.
Informationen zu den Kosten der Weiterbildung:
November 2024 - Mai 2026 (Termine); i.d.R. Freitag-Sonntag, 6.750,00€ (18x375€)
Das Gespräch führte Pola Geisler (Mitarbeiterin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit)