19. DGSF-Jahrestagung – eine Teilnehmerperspektive in drei Etappen

1. Auftakt

Angesichts des Tagungstitels: „Zwischen Vergangenheit und Zukunft – Systemische Dimensionen der Zeit“, war trotz vollen Kalenders schlecht zu argumentieren, für einen kurzen Tagungsbericht „einfach keine Zeit“ zu haben. Zugleich war hier ein Angebotsüberschuss zu verzeichnen, der ohnehin nicht umfassend zu erleben geschweige denn von einem alleine zu beschreiben war. Luhmann wird sozusagen live erlebbar: die Workshopfülle führt zu einem ausgeprägten „Selektionszwang“. Der Bericht bekommt damit eine Art „Emmentaler“ Qualität: „die Löcher sind größer als die Masse“, er lässt mehr aus als er beschreibt und ist dabei sehr subjektiv, nicht repräsentativ.

Ausgelassen habe ich beispielsweise: die Mitgliederversammlung, das Tagungsfest, die HISW-Geburtstagsfeier, den Film, die Foren, die Werkstattgespräche, den Empfang, die Verleihung der Preise und die Abschlusszeremonie. Stattdessen war ich zunächst im Auto (direkt vom Kundentermin bis zu meinem Heimatbahnhof), dann fünf Stunden im Zug, dann zu Fuß unterwegs zu meiner Unterkunft (bei Sohn und Schwiegertochter), später an der Alster (zum Joggen), und auf der Alster (im Kajak), in der Elbphilharmonie, bei der Klimademo (mit dem Stadtrad) – und natürlich bei der Konferenz. Dort habe ich erlebt und genossen: die Eröffnungszeremonie, vier (von über 100 im Programm möglichen) Workshops (einer davon mein eigener), eine Fachgruppe (von 24 im Angebot), alle sechs Plenarvorträge, die Mensa, das Studentencafé, den Konferenzcaterer und die Stände der Aussteller im Zelt vor dem Audimax.

Bei bis zu 30 parallelen Angeboten waren die Workshops erst gar nicht so leicht auszuwählen und nachher, über drei Gebäude und drei Stockwerke verteilt, auch gar nicht so leicht zu finden. Glücklicherweise hatte ich versäumt, mich frühzeitig für Workshops anzumelden, so war die späte Auswahl der noch nicht ausgebuchten Angebote schon wesentlich übersichtlicher – und die so gefundenen erwiesen sich allesamt als ausgezeichnete Wahl. 

Bei der Eröffnung gefiel mir gut, dass gleich zu Beginn das gesamte Veranstalterteam des HISW auf der Bühne sichtbar wurde (das ja zugleich den 20. Geburtstag des eigenen Instituts feierte).

Die Grußworte kamen von zwei der Veranstalterinnen, Susanne Vormbrock-Martini und Ursula Wolter-Cornell, und dem Moderator Matthias Richter, von je einer SPD-Abgeordneten von Bund  und Land, Aydan Özoguz (MdB) und Isabella Vertes-Schütter (Gesundheitsausschuss der Hamburger Bürgerschaft), vom scheidenden DGSF-Vorsitzender Björn Enno Hermanns sowie von Tom Küchler, einem Beisitzer im Vorstand der SG. Danach war jeden Tag Zeit für zwei Plenarvorträge und an den ersten beiden Nachmittagen für je zwei Workshops.

2. Tagungsvielfalt

Den Eröffnungsvortrag macht sowohl „Zeit“ als auch „Familie“ erlebbar: Zeitforscher Karl-Heinz Geissler und sein Sohn Jonas Geissler sprachen nacheinander über „Time is honey – vom klugen Umgang mit der Zeit“. Sie begrüßen die „lieben Zeitgenossen“ im Raum und sprechen über „Zeitakrobatik“ und „Zeit-Räume“ (was der Uhrzeiger durchwandert). Sie unterscheiden drei unterschiedliche Zeitvorstellungen. Bis zum Mittelalter war die Welt eine Scheibe und die Zeit eine Naturzeit – noch heute heißt in vielen Sprachen „die Zeit“ genau wie „das Wetter“ (le temps); Rhythmen regeln die Abläufe: äußere wie Tag & Nacht, Erntezyklen; innere wie Schlaf und Hungerbedürfnisse. In der Moderne: wird die Welt kugelförmig und Zeit linear und getaktet. In der Postmoderne: passiert dann alles Mögliche gleichzeitig, erst beschleunigt, dann verdichtet  und virtuell – bis „Entschleunigung“ die Bewegung wieder bremst und im „Slow Mob“ kulminiert.

Carole Gammer referierte anschließend über zwölf Teilaspekte von „Mentalisierung“, also der Fähigkeit, eigene innere Zustände verstehen und versprachlichen zu können sowie die mentalen Zustände (Gedanken, Emotionen, Absichten, Wünsche, Bedürfnisse) Anderer zutreffend erkennen zu können. Früher hieß das „Reflexives Funktionieren“; die Alternative „Empathie“ sei zwar populärer, aber weniger genau definiert. Systemische Ideen wie zirkuläre Fragen (Selvini; Simon), Neugier (Cecchin) oder Reflecting Team (Anderson) passen nahtlos dazu.  

Mein erster Workshops ist „The Hero’s Journey“ von Frieder Ittner, der aus dem Heldenreisemotiv von Joseph Cambell (1949) ein Seminar zur Selbsterkundung in acht Schritten entwickelt und in Brasilien und Indien erprobt und multimedial angereichert hat. Im zweiten Workshop stellt Michael Faschingbauer den aktuellen Stand seines Managementmodells der „Effectuation“ vor, bei dem eher vom Machbaren und von „leistbaren Verlust“ als vom maximal durchgeplanten „Return on Invest" ausgegangen wird. Dabei gibt es sowohl Überschneidungen als auch Unterschiede im Vergleich zu „Agilen“ Methoden (wie Scrum, Lean Startup, Rapid Prototyping, Design Thinking, …), aber für alle gilt: Sie sind strukturierte Prozesse – NICHT Ausreden für planloses Vorgehen.

Abends reicht es vor der Abfahrt in die Elbphilharmonie – einer gelungenen Überraschungsaktion meiner Gastgeber - noch für eine Stippvisite bei der Fachgruppe „Supervison, Coaching, Organisationsentwicklung“, wo Susanne Bourgeois und Petra Ruth Ape „Kultur“ und „Macht“ thematisieren.

Der zweite Tag beginnt im Plenum mit Volkmar Aderholds Beitrag „Psychiatrie in der Krise – der Offene Dialog als Antwort?“ Bei grundlegender Kritik am herrschenden (sic) biomedizinischen Weltmodell der Psychiatrie und einem Verständnis von Psychose als „Reaktion auf eine lebensgeschichtliche (also verstehbare) Krise“ bietet sich einfühlsame Begegnung im sozialen Kontext eher an als primär medikamentöse Behandlung.   Beste Erfahrungen damit zeigt seit 30 Jahren die in Finnland entwickelte Herangehensweise des „Offenen Dialogs“ (die übrigens auch in einem sehenswerten Dokufilm von Daniel Mackler portraitiert wird https://www.youtube.com/watch?v=HDVhZHJagfQ)

Anschließend spielt Ulrike Borst mit „Zeit essen Seele auf. Der Faktor Zeit in Beratung und Therapie“ auf einen Fassbinder-Filmtitel an und greift zehn Thesen von Luc Ciompi zum „Leiden an der Zeit“ auf. Sie diagnostiziert: “Wir leben länger, aber haben nicht mehr Zeit“ und stellt so das „Diktat der Dringlichkeit“ von Vera King überzeugend in Frage.

Nachmittags lerne ich im Workshop von Michael Gerland viel über den „Umgang mit religiös begründeten Konflikten“, über Beratung für Aussteigerinnen aus islamistischen Bewegungen, über das „ökosystemische Modell“ von Urie Bronfenbrenner, über Viginia Satirs Unterscheidung von „offenen und geschlossenen System“ und darüber, wie wir in Krisen anfällig für „radikale Lösungen“ werden. 

Mein eigener Workshop über „Parkinson & Pareto im Zeitfenster“ versammelt 22 sehr inter-aktive Teilnehmer*innen, die sich für praktische Werkzeuge zum effizienten Umgang mit begrenzter Zeit in Besprechungen (wie das „Focus-5-Chart“, die „Lösungs-Matrix“, das „agile Taskboard“ oder die „Aufgabendelegationsliste“) interessieren.

Den letzten Tag eröffnet Claudia Weber mit: Zeitvergessen und Zeitbesessen. Historisches Denken und das Problem mit der Zeit.“ Anders als bei Alice im Wunderland ist hier Geschichte nicht „das Trockenste was ihr einfiel“ (um die Tiere zu trocknen!), sondern im Gegenteil sehr lebendig reflektiert. Die früher eher sich wiederholenden Zeitläufe versuchen sowohl Karl Marx („Geschichte wiederholt sich nicht – es sei denn als Farce““ als auch das Christentum zu linearisieren („von der Genesis zur Eschatologie“). Und selbst dabei kann sich die Zeitrichtung noch umkehren: altorientalisch war die Vergangenheit vor uns und daher klar sichtbar; die Zukunft dagegen nicht eindeutig erkennbar und daher hinter uns.

Den – krönenden – Abschluss machte Friedemann Schulz von Thun mit seinen „Kommunikationsmodellen: Zeitlos oder mit der Zeit gereift?“. Augenzwinkernd, anekdotenreich und mit Overheadfolien bewusst anachronistisch, erzählte er über die Entwicklung einer ersten Vierfeldermatrix aus „Wertschätzung – Geringschätzung x Lenkung – non-direktives Gewähren von Freiheit“ zu seinen bekannten Modellen des Kommunikationsquadrats („vier Seiten einer Nachricht“), des „Werte- und Entwicklungsquadrats“ und des inneren Teams, über „Stimmigkeit“ im Abgleich von äußerem System (Umwelt, Kontext) und innerem „Wesen“ (im Sinn von Karlfried Graf Dürckheim), und über Coaching als den Versuch, Selbstbewusstsein und Systembewusstsein zu versöhnen.  Nach dem Vortrag gab‘s stehende Ovationen.

3. Ausklang

Für die Abschlusszeremonie fehlte mir leider die Zeit (sic), weil ich rechtzeitig (bzw. recht zeitig) für meinen Zug am Bahnhof sein wollte. Dass die nächstjährige Tagung „bei mir zu Hause“, also in Heidelberg stattfinden wird, erfuhr ich daher erst dort.

„Die Zeit“ fuhr aber gleich doppelt mit nach Heidelberg: Meine zufällige Sitznachbarin las „Momo“ von Michael Ende – die schönste Beschreibung der Wirkung von Zeit, die ich kenne. Und selbst bestellte ich mir unterwegs doch glatt das von Volkmar Aderhold erwähnte Buch von Arlie Hochschild: „Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet“.

Dass bei mir zu Hause reichlich Arbeit wartet, wusste ich da schon. Wie bald ich das Buch dann auch lesen werde, weiß ich dagegen noch nicht. Womöglich habe ich „wegen der Arbeit“ dafür erstmal einfach keine Zeit …

Autor: Dr. Klaus Schenck, DGSF-„Lehrender für Systemische Beratung“ und „Systemischer Organisationsentwickler“