Hüther, Aarts, Asen, Heyme und Don Quichotte

Woran erkennt man eine gelungene Fachtagung? An einem vollen Saal; schwarzen Zahlen bei der Bilanz; reibungslosem Ablauf. Aus Sicht der Teilnehmer: anregende, kurzweilige und fachlich versierte Referentinnen und Referenten, praxisrelevante Arbeitsgruppen, stimulierende Begegnungen und eine heitere Atmosphäre, gutes Essen und Trinken, keine langen Schlangen, eine bewegendes kulturelles Bei­programm, fachliche und menschliche Eindrücke, die nachwirken.

Fachtag Ludwigshafen 2010


Nun das meiste davon hat sich erfreulich realisiert. Diese zwei Tage haben viel Energie gebraucht für die Vorbereitung, aber diese Energie kam zurück, in dem Ge­fühl, das ganze hat sich gelohnt.

Unter Federführung und Hauptverantwortung des Dezernats für Kultur, Schulen, Ju­gend und Familie der Stadt Ludwigshafen veranstalteten das Institut für sozialpäda­gogische Forschungen Mainz, die DGSF (Deutsche Gesellschaft für systemische Therapie und Familientherapie) und das Praxisinstitut Hanau zwei Fachtage und eine Vorabendveranstaltung für rund 600 Teilnehmerinnen und Teilnehmer.

Für das Praxisinstitut war dies auch eine Jubiläumsveranstaltung zum 20. Grün­dungsjahr und in Ludwigshafen Teil der Höhepunkte zur Feier der 150 Jahre Stadt­rechte. Der Pfalzbau, Ludwigshafens Theater- und Kongresszentrum, war gerade mit erheblichem Aufwand renoviert worden und dies war der erste große Kongress nach der Wiedereröffnung. Geburtshelfer für diese Fachtagung war eine Fachtag mit Maria Aarts und Gerald Hüther 2007 im Hanauer Kongresspark, von der Rainer Schwing und Eberhard Bucher, Leiter des Ludwigshafener Zentrums für individuelle erzieheri­sche Hilfen (LuZiE) so beeindruckt waren, dass sie schon auf dieser Tagung Kon­takte knüpften für eine ähnliche Veranstaltung in Ludwigshafen.

Ludwigshafen ist eine Industriestadt in Rheinland-Pfalz, in der die sozialen, kulturel­len und ökonomischen Herausforderungen die Bedeutung von Erziehungs- und Bil­dungsprozess besonders deutlich werden lassen. Gegen die Angst vor sozialem Ab­stieg und die Überforderungen oft isolierter Familien braucht es solidarisierende Ar­beitsformen, die Resignation überwinden, Hoffnung schaffen und erreichbare Erfolge ermöglichen.

Wirksame Arbeit für Integration, schulischen Erfolg, Toleranz und Gastfreundlichkeit, starke Kinder, präsente Eltern und intelligente Konfliktlösungen in Ludwigshafen und anderen Großstädten brauchen sozialpädagogisch-therapeutische Arbeitsformen auf der Höhe der fachlichen Entwicklung. Vor diesem Hintergrund war die Leitfrage der Tagung: Welche Haltung, Arbeitsformen und Rahmenbedingungen sind für erfolgrei­che Bildungs- und Hilfeprozesse in benachteiligten Milieus geeignet?

Zu den beiden oben genannten Referenten hatten wir noch Eia Asen eingeladen, der seit 30 Jahren als leitender Psychiater einer Tagesklinik der Londoner City beson­ders mit armen und ausgegrenzten Arbeitslosen und Drogenabhängigen aus ganz unterschiedlichen Kulturen arbeitet. Aus der Erfahrung, dass klassische psychiatri­sche Arbeitsformen für diese Familien kein passendes Angebot sind, entwickelt er Multi-Familien-Gruppen als Lernkontexte für die Überwindung von Symptomen, Aus­grenzung, Delinquenz und Resignation.

Nicht nur als Hausherr des Pfalzbaus, sondern auch als einen großen deutschen Theaterregisseur und Intendanten, der seine Arbeit immer auch als politisches und soziales Experiment verstanden hat, war Professor Hansgünther Heyme der vierte im Bunde, wenn auch mit einer Sonderrolle als Theatermann.

Zu einer Vorabendveranstaltung am Montag trafen sich etwas 50 Leitungskräfte und Fachmitarbeiter aus Politik und Jugendhilfe, Schule und Kultureinrichtungen. Unter der Leitung von Professor Jochen Schweitzer-Rothers diskutierten das Podium und das Plenum über die Fragen, auf welche Weisen integrierende kommunale Bildungs- und Erziehungslandschaften einen Beitrag leisten können zu mehr Inklusion statt Exklusion benachteiligter Gruppen. Die breite Reflexion in dieser Vorabenddiskus­sion zwischen ganz unterschiedlichen Gruppen machte deutlich, dass in diesem Dreieck von Schule, Jugendhilfe und Politik Wege der Integration gebaut werden könnten. Dabei zeigte zum Beispiel Xenia Roth vom Bildungs- und Kulturministerium in Mainz eindrucksvoll welche Möglichkeiten inzwischen in der Zusammenarbeit mit Land und Kommunen im Bereich der Kindertagesstätten entwickelt worden sind. Es entstand der Eindruck, dass mit dem wachsenden Alter der Kinder eine ganzheitli­che, kooperative und integrierende Pädagogik immer schwieriger wird.

Getreu unserem Motto: Mit Herzen, Mund und Händen zu lernen“ eröffnete die Fachtagung am Dienstagmorgen, die Schüler-Big-Band „Jazzica“ des Geschwister-Scholl-Gymnasiums.

Für Gerald Hüther, den ersten Referenten, war das Bild und der Klang dieses musizierenden Or­chesters Metapher, von der her er seine Überlegungen entwickelte: Organis­mus Stadt und Neurobiologie des Altruismus, warum Fürsorge, Mitgefühl und soziale Gerechtigkeit überlebenswichtig sind. Das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, Leitmotiven und Themen, Kompetenz und Material, handwerkliche Ausbildung und Inspiration, Rolle der Führung (Dirigent), am Bild des Orchesters wird das, worauf es ankommt sinnfällig, hör- und erlebbar.

Gerald Hüther ist ein faszinierender Redner, ja ein brillanter Entertainer. Es gelingt ihm, die Bedingungen guten Lernens in Instituti­onen mit Analogien aus dem Bereich der Neurowissenschaft zu veranschaulichen. Dabei gibt er jedem Sozialpädagogen, jeder Erzieherin das Gefühl unendlich wichtig zu sein. Gerald Hüther appellierte an den Geist, der eine gemeinsame Arbeit prägt, an die Haltung, die Menschen verbindet. Eine solche Haltung lädt junge Menschen ein, macht ihnen Mut, inspiriert sie zu kreativen ganzheitlichen Lernprozessen. Seine tiefe Enttäuschung über die schulische Realität in Deutschland war nicht zu überhören.

Maria Aarts illustriert die Kraft liebevoller Blicke: Achtsamkeit, Offenheit, Präsenz und Struktur prägen ihre Konzepte und insbesondere die Praxis bildunterstützter Arbeit in ganz unterschiedlichen sozialen Kontexten. Dabei hält sie sorgfältig die Balance zwi­schen fürsorglicher Wärme und präsenter Führung bereits bei Säuglingen und Klein­kindern durch Mutter und Vater.

Bei der Vielzahl der Teilnehmer waren auch Work­shops eher Vorlesungen, boten jedoch viel Gelegenheit zu Rückfragen und auch kleineren Übungen. Die Stimmung in den Sälen und auf den Fluren war so gut, dass auch kleine Pannen beim Mittagessen die Stimmung kaum trüben konnten.

Nach einem Tag voller Sprechen, Austauschen und Zuhören, war es für viele Teil­nehmer eine Wohltat, im Konzertsaal des Pfalzbaus das Petersburger Tanztheater mit einem Ballett zu „Don Quichotte“ zu erleben. Aus dem Rausch der Musik, der Farben und artistischen Figuren mag mancher mitgenommen haben, wie das Bemühen Gutes zu tun und engagiert Gerechtigkeit zu üben an die Grenze zum Verrückten geraten kann; und wer möchte schon Kämpfer gegen Windmühlenflügel sein?

In seiner inspirierenden Rasanz, Schnelligkeit und Energie informierte Eia Asen über die unzähligen Einsatzmöglichkeiten von Multi-Familien-Therapie. Es sind dies mo­derierte Selbsthilfegruppen, Kontexte von Begegnung und Freundschaft, die ge­tragen sind von einem anderen Bild des Therapierens und Helfens. Helfer ge­ben Struktur und liefern Konzepte. Doch in diesem Rahmen begegnen sich Familien, geben sich gegenseitig Rückmeldung, schildern ihre eigenen Erfahrungen und wachsen an ihren eigenen Kräften. Ob in der Tagesklinik oder im Jugendamt-Kontext und insbesondere als Familienklassenzimmer in schulischen Kontexten … Eia Asen sprengt den Rahmen traditioneller Einzelfallhilfe und macht Mut mit Großgruppen­konzepten zu experimentieren, Sozialräume achtsam zu nutzen und Segregation mit integrierenden Haltungen, Settings und Methoden aufzuweichen.

Er machte auch deutlich, warum er als Psychiater in England geblieben ist: während hierzulande viele Psychiater Macht und Bedeutsamkeit an der Anzahl der Betten messen, muss man sich in England dafür legitimie­ren: „wofür brauchst du denn Betten?“ Dass er eine psychiatrische Klinik, gemeinsam mit einer Sozialpädagogin leitet, wäre das in Deutschland denkbar?

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ludwigshafener Zentrums für individuelle erzie­herische Hilfen stellten abschließend eine Fallgeschichte vor und gaben den Refe­renten Gelegenheit ihre praktischen Arbeitsmodelle zu verdeutlichen. Hier war es nicht so leicht eine gute Balance zwischen drei so exponierten Fachleuten herzu­stellen. Maria Aarts zeigte, wie brillant sie mit Bildern umgehen kann und die Herren blieben ein wenig in der Defensive.

Neben diesen Höhepunkten der Veranstaltung gab es unzählige Begegnungen, an­regende Gespräche. Ein „Markt der Möglichkeiten“ zeigte, was in Ludwigshafen und Umgebung an innovativen sozial-pädagogisch-therapeutischen und kulturellen Kon­zepten lebendig ist.

Eine raue Chemiestadt in wahrhaft rauen Zeiten hat die Kraft gefunden, Mut zu ma­chen und zu zeigen, was fachlich möglich ist im Kontext der kommunalen und freien Jugendhilfe. Das hat in hohem Maße motiviert nach außen und nach innen.

Doch gerade deswegen zum Ende noch ein zaghaftes Aber:

Alle politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen in Ludwigshafen und anderswo zeigen, dass Ungleichheit und Exklusion ganzer Bevölkerungsgruppen zunehmen. Der Ausschluss eines langsam aber stetig größer werdenden Anteils  unserer Mitbürger von Ressourcen, Arbeit und schulischem Erfolg lässt sich nachweisen und in dieser Situation folgt die fiskalische Krise der Finanzkrise mit all ihren Folgen für soziale Hilfen.

Bei aller Begeisterung: Dieser sozial-politische Hintergrund, der die Rahmenbedingungen und Ergebnisse psycho-sozialer und pädagogischer Arbeit zentral bestimmt war zwar implizit jederzeit gegenwärtig wurde jedoch kaum expliziert. Durchaus nicht untypisch für therapeutisch geprägte Kontexte.

Wichtig ist nicht nur worüber gesprochen-, sondern auch worüber geschwiegen wurde.

(Hans-Werner Eggemann)