Stellt Fragen - Was sollen Systemiker*innen sonst tun in irren Zeiten?

Überarbeitete Fassung des Impulsvortrags von Cordula Stratmann anlässlich der Jubiläumsveranstaltung der DGSF am 4. Oktober 2025 in Berlin

Beim Nachdenken über meine "Ansprache" setzte sich durch, dass ich gerne einen Gedanken anregen möchte, von dem ich immer wieder denke, dass er derzeit zu wenig Beachtung findet. Überall, in unseren kleineren Biotopen bis hin zu den großen. Von ganz klein bis hin zu global. Ich glaube, die Frage, die ich gleich stelle und mit der ich Euch gleich vollkommen aus der Fassung bringe, diese Frage haben wir uns, hat die Menschheit (ich hab`s nicht kleiner, schaut Euch um, um Euch herum und in der Welt!) sich anscheinend kollektiv abgewöhnt, regelrecht abtrainiert.

Eigentlich müssten wir uns alle tiptop miteinander verstehen, es dürfte eigentlich gar nicht so viele unlösbare Konflikte geben, wie wir sie derzeit ständig erleben.

Wir befinden uns aber miteinander in einer Dynamik, da wird es schon sehr heikel, wenn ich aufs Kassenband ein Glas Gewürzgurken lege, und der Mensch hinter mir gerade Gewürzgurken ganz eklig findet. Dann ist ja schon der Ofen aus, wir können keine Freunde mehr werden.

Und als ich beim Aufschreiben dieser Gedanken nochmal nachdachte - das ist ein ganz guter Twist, dass man beim Nachdenken nochmal überlegt - da dachte ich, das ist eigentlich ganz unlogisch, dass sich mittlerweile so viele Menschen wie Stiere gegenüber stehen und so gar nichts voneinander halten. Denn: Wir sind, egal, mit wem wir in Diskussionen geraten, egal, wie unvereinbar unsere Meinungen, Haltungen, Glaubenssätze, Ansichten erscheinen, egal wie unversöhnlich wir uns also gegenüberstehen, wir haben eine Angelegenheit, in der wir mit dem noch so großen Gegner und mit der noch so großen Widersacherin absolute Einigkeit haben:

Weder Du, mit dem ich eine Lösung finden soll, noch ich, mit der Du eine Lösung finden sollst, also wir beide haben völlige Einigkeit darüber, dass ich mir und Du Dir ganz sicher nicht diese Frage stellen muss(t):

Was, wenn ich gerade das Problem bin? Oder wenigstens: auch das Problem bin?

Was, wenn ich so souverän wäre, wahrzunehmen, wie ich gerade mit dem Anderen zusammen die Problematik aufrecht erhalte? Und zwar mit meiner Überzeugung, dass ich es definitiv nicht bin, mit meinem Kopfschütteln über das Gegenüber, mit meiner Arroganz, zu glauben, das Problem sei gelöst, wenn der andere mir, ich aber dem anderen nicht folgte... und mit dem blinden Fleck, dass ich mit dem selben Besteck agiere wie der oder die andere, weil ich meine Position für die richtige halte, exakt so wie der oder die andere. Dabei geht es schon längst nicht darum was wir da verhandeln, sondern darum wie wir es tun.

Was wäre, wenn ich dem anderen unterstellte, dass er/sie ebenso wie ich eine Lösung des ursächlichen Problems anstrebt? Auch, wenn das absolut nicht meine ist?

Wie ist das eigentlich passiert, dass mittlerweile selbst die Schlauesten - und dazu muss ich uns systemische FamilientherapeutInnen in aller Bescheidenheit einfach zählen, denn qua Ausbildung haben wir die beste (ja, das lasse ich trotz Arroganz-Verdacht hier so stehen, Zwinkersmiley. Zumal es nicht Kompliment an uns alle ist, sondern uns in unsere Aufgabe stellt!), nämlich eine besonders beobachtende Sicht auf diese Welt beigebracht bekommen: Fehlerfreundlichkeit; Diagnoseskepsis; permanente Beweglichkeit in Systemen; das Hier und Jetzt erkennen und es aufgreifen mit der Frage Was stellt sich dar? und daraus erste Bewegungen aufeinander zu anregen, unter anderem mit unseren wunderbaren, zirkulären Fragen, als nur einer Spielart von so vielen - wie ist das also eigentlich passiert, dass sogar wir mit dieser Prägung mittlerweile uns ebenso in erhitzten Debatten wiederfinden? Wieso finden so gut grundierte Leute wie wir sich in Debatten über das Entweder-oder? Wo ist unser Sowohl-als-auch? Unsere Fragen sind doch keine Dienstkleidung!

Die gute Nachricht: Wir sind als systemische ArbeiterInnen so gut grundiert, dass jede und jeder weiß, wovon ich spreche. Wir müssen uns nur alle einmal ordentlich schütteln, bisschen die Wangen klopfen für eine entspannte Gesichts - oder eher Gehirnmuskulatur,  um dann den, sogar auch von uns vielgenutzten, entrüsteten Ausruf: „Das ist doch völlig absurd!“ (oder was wir so ausrufen in unserer Rechthaberei) mit Schwung über Bord zu werfen und zack, zack zurück zu kehren zu unseren Stärken und unser Gegenüber fragen: „Wie meinst Du das?“, „Liege ich richtig, wenn ich Dich so verstanden haben, dass…?“, „Was fällt Dir gerade so schwer, meiner Argumentation zu folgen?“ und so weiter. Wir kennen ja die Fragen, die einen Prozess öffnen anstatt ihn zu killen. Wir kennen den Unterschied zwischen Suggestiv-Fragen und den förderlichen Fragen, den wirklich interessierten, die sich um Verstehen bemühen.

Von diesem Gedanken wollte ich Euch erzählen, der mich in diesen Zeiten wirklich privat, beruflich wie gesellschaftlich sehr umtreibt:

Nicht der oder die andere/anderen, wir alle sind Teil des Problems!

Die Unversöhnlichkeit ist in unsere Verhältnisse eingezogen. Ich beobachte das an so vielen Stellen - und sie wirkt als ein Gift, das Dich zersetzt, wenn Du lange genug tröpfchenweise davon konsumierst, und auf diesen osmotischen Vorgang nicht mit wachem Bewusstsein sondern reflexhaft reagierst. Man kann auch sagen, wenn Du nicht die Sinne beisammen hältst, dann bist Du angesteckt. Das äußert sich dann in wütender Ohnmacht über den anderen und daraus folgender Selbstbehauptung - und mit diesem Gift finden sich am Ende die bis gerade noch Klügsten gleichermaßen wie die Dümmsten im selben Kampf ums Recht-haben. Das Ziel einer Lösung aus den Augen verloren, geht es dann nur noch darum, dass ich mir irgendetwas oder gleich den ganzen Anderen "nicht bieten lasse".

Und ich glaube, die, die vehement und unerreichbar sich "auf der richtigen Seite" glauben, die sind unser größtes Problem. Danach erst stellt sich die Frage, warum jemand AfD wählt, oder sich damals hat nicht oder doch impfen lassen, aus einem Verein austritt oder eintritt, oder wo auch immer wir uns alle meinen positionieren zu müssen, um dann aus der Verbindung auszusteigen, weil wir längst wie Hühner mit abgehacktem Kopf in einen Selbstbehauptungskampf gezogen sind. Weil der andere ja… der hat doch angefangen!

Ich bin davon überzeugt, wenn wir das Teil-des-Problems-Sein alle mehr verinnerlicht hätten - und wer soll denn das als Anspruch an sich haben, wenn nicht die SystemikerInnen?! - wenn wir uns wieder beteiligt fühlten als MitgestalterInnen des Gelingens wie auch des Misslingens (weil das nun mal ein Naturgesetz ist), und sei es nur, dass wir anerkennen: Ich bin inhaltlich voll auf meiner Seite, hab ja schließlich gute Argumente. Okay, selbst wenn wir also vereinzelt beharren wollen oder sogar müssen auf unserer Sicht der Dinge, weil es zum Beispiel um die Todesstrafe geht (und dazu hat man als aufgeklärter Mensch hoffentlich nur eine Meinung), selbst dann können wir uns mit großer Sicherheit immer noch eines Fehlers bezichtigen und müssen sehr wahrscheinlich eingestehen: Ich hab den falschen Ton. Und damit die falsche Haltung, nicht mehr die lösungsorientierte, sondern die urteilende. Mit einem Urteil über den anderen, haben wir den zu verhandelnden  Inhalt bereits aufgegeben.

Weil wir urteilend zuvor schon die Verbindung gekappt haben - und ohne die gibt es nichts mehr gemeinsam zu lösen.

Wir geben so viele andere verloren! Und damit immer auch uns selbst.

Liebstes Beispiel: Wir stürzen uns, wie eben schon erwähnt, gerne auf "Die AfD-WählerInnen", dann sind die Westler gerne in ihrer so geliebten Schräglage von oben nach unten Richtung Ostler, und dann geht`s rund mit der Abwärts-Dynamik. Ich bin wirklich immer wieder erstaunt darüber, wie intellektuell flachbrüstig der Westen die Wahlergebnisse im Osten dieses Landes diskutiert, da wird wirklich ständig über rechts und links und Nazis diskutiert, während AfD-LokalpolitikerInnen Feste ausrichten und Bushaltestellen bauen. Wir leisten uns als Westler Jahrzehnte nach Maueröffnung immer noch diese brachiale Arroganz Ostdeutschen gegenüber, das ist genauso dumpf wie den eigenen Rassismus in sich nicht zu erkennen, weil man von sich ja sagt, „nee, ich bin kein Rassist“, und denkt, um etwas nicht zu sein, reiche es schon aus, es nicht sein zu wollen.

Wir wissen doch, dass das Beharren in die Eskalation führt! Warum stellen wir statt Kopfschütteln und Unverständnis nicht die dringende Frage: Wenn ich Dich einmal nicht zum Arschloch erkläre, worüber müssen wir dann eigentlich reden? Wovor hast Du, wovor habe ich Angst? Welche Sorge eint uns?

Und nun können wir das AfD-Beispiel übersetzen auf die vielen Gelegenheiten, wo wir sagen: Ich verstehe diesen oder jene nicht mehr. Dann frag! Interessier Dich! Und lebe genau das vor. Was anderes fällt mir in dieser Welt nicht mehr ein, was zu tun wäre. Ich kann mich nur selbst beobachten und zurückpfeifen, sobald ich mich von einer Dynamik anstecken lasse und ihr Teil werde.

Ich habe das große Glück, dass ich von meinen großartigen Mentoren Marlies und Klaus Flach ausgebildet wurde in dieser zeitlosen systemischen, hellwachen und damit stets hochpolitischen Sicht auf diese Welt - und es wäre sogar unterlassene Hilfeleistung wenn ich sie nicht, gerade in dieser eskalierenden Welt, anwenden würde. Für mich ist diese Ausbildung zur systemischen Familientherapeutin und die Ausübung dieses tollen Berufs nicht nur eine professionelle Ausstattung, mit der ich Platz nehme auf meinem Beraterinnenstuhl, sie ist mir Aufforderung, überall zu erkennen, welche Dynamik gerade kollektiv kultiviert wird und in welcher Weise ich daran mitwirke.

Wenn wir uns unserer Fragehaltung erinnern in Räumen, die eng werden, dann  steigen wir aus Kampfhandlungen aus und schaffen Platz für Lösungen. Es ist wichtig, dass wir das nicht hergeben.

Cordula Stratmann

Bildergalerie: Cordula Stratmann bei der DGSF-Jubiläumsfeier in Berlin

Fotograf: Marius Bauer