Tagungsbericht

Die 15. wissenschaftliche Jahrestagung der DGSF fand in Magdeburg statt, das Thema »simply emotional – simply systemic« hatte über 1.000 Teilnehmende angezogen. Es gab blauweißen Himmel zur Begrüßung, viele freundliche Menschen, das übliche Gedränge bei der Anmeldung und viele Eyecatcher, die deutlich machten: Hier haben Menschen sich etwas überlegt, hier sind viele gute Geister am Werk gewesen.

In den ersten Grußworten wird die Bedeutung Magdeburgs als einstige Wiege der deutschen Nation sehr betont. Dann kommt der erste Vortrag zum Kongressthema: Wilhelm Schmid spricht über den Sinn. Er tut das langsam und bedächtig. Ich erwarte eine Offenbarung, doch als ich dann von seinem Sinnverständnis höre, nämlich dem Ort, wo ich geliebt werde und liebe, und von der Verbindung zum Raum der Energie, der in uns ist, auch wenn wir Sterbende begleiten, kommt mir das doch recht vertraut vor. Seele bezeichnet er als den Raum der Energie, in dem wir uns bewegen – in Form von Gefühlen – in uns. Als er am Schluss über die Ebene der Schwellenüberschreitung und der Selbstvergessenheit dabei spricht, fühle ich mich an die Leichtigkeit einer Talkshow erinnert.

Danach wird es spannend. Matthias Varga von Kibed spricht aus den USA über Skype zu uns: Wie Gefühle Systeme bewegen ist sein Titel. Er spricht über die Vermehrung der Handlungsmöglichkeiten, die von Kontexten und Perspektiven abhängen. Und er spricht über die Freiheitsgrade, die wir uns nehmen und die wir uns geben. Gefühle sind eher wie Wolken, nicht wie Murmeln. Wenn wir etwas gegenständlich werden lassen, wird der Raum begrenzter. Wenn ich sage, ich habe ein Gefühl, gibt es ein klares Verhältnis zwischen mir und dem Gefühl. Wenn ich frage: »Was fühlen sie?«, lasse ich mehr Offenheit. – Die Verflüssigung ist wichtig! Gefühle sind nichts Festes!

Mit verschiedenen Exkursen zu Martin Buber und Wittgenstein, Rumi und Guenka, die unkompliziert und verständlich in seine Rede eingebaut werden, stellt von Kibed die entscheidende Frage: Wie kann jemand sein Gefühl und die Ausrichtung am Verhalten ändern? Wunsch und Wille (Wittgenstein) haben nichts mit Handlungen zu tun. Dann eröffnet von Kibed die Brücke des Als-ob, die in der Systemischen Beratung als verändernde Brücke zur Einstellung zum Ganzen beitragen kann.

Die Wunderfrage in verschiedenen Variationen, die Erinnerung an vergangene Zukunftsplanung: »Wie wäre es, wenn das schön gelöst wäre?«, ändert sich, wenn sie zum Indikativ wird, zur verändernden Konstante. Was ist dann anders? Wie im Aramäischen wird der Modus der teilweisen Verwirklichung eines (erwünschten) zukünftigen Ereignisses in der Gegenwart als Zeichen dafür gesehen, dass Veränderung möglich ist! Die Evidenz dafür, dass etwas wirklich geschafft ist, geht ins Gefühl über, Haltungen sind wesentlich. Das systemische Vorgehen ist fortlaufende Emanzipation verflüssigter Zustände, führt weg von Kategorisierungen, hin zu größeren Zusammenhängen! Matthias Varga von Kibed erntet tosenden Applaus. Welches Geschenk an diese Tagung, dieser geistreiche vielseitig inspirierende Vortrag.

In der Mittagspause genießen viele das Draußensein und den Übergang zum Nachmittag in Begegnungen. Am Nachmittag nehme ich an einem Workshop zur Achtsamkeit bei Annett Renner teil, der meine hohen Erwartungen erfüllt und mich vor allem wegen der lebendigen
Gruppeninterventionen erfreut und bewegt. Im Gespräch mit anderen Tagungsteilnehmer/innen erfahre ich, dass sie sowohl die Workshops als auch die Foren häufig als reine Alleinunterhalterveranstaltung des jeweiligen Workshopleiters oder der -leiterin wahrgenommen haben. Umso mehr bin ich Annett Renner für ihre interaktive und lebendige Workshopgestaltung dankbar. Die Fachgruppe systemische Seelsorge ist gut besucht und sehr inspirierend. Der Ruf nach zielführender Ausrichtung und konkreten inhaltlichen Projekten ist spürbar vorhanden. Eine Herausforderung, dies mit in den Fachtag im Juni 2016 und das geplante Forum für die Jahrestagung 2016 in Frankfurt aufzunehmen und weiterzuführen.
Die ganztägige intensive Aufmerksamkeit und kräftezehrende Diskussionen hindern mich an der Teilnahme des sich anschließenden Vortrags von Friedrich Schorlemmer.

Am Freitag besuche ich das Forum mit Reinhold Bartl aus Innsbruck – Ortwin Meis hatte abgesagt – zum Thema »Niederlage, Verlust und Schmerz – Wie das Gestern und Heute zur Inspiration für Morgen wird«. Er spricht von der konfusionierenden Welt am Beispiel eines Dialogs mit seinem Sohn: 1. Du hast alle Freiheiten, 2. Du musst tun was wir erwarten. Symptome sind verstehbar als Zielkonflikte ... und Bartl fragt: Wie kann man sich auf feste Ziele einstellen? Und er sagt: Das Leben hat kein festes Ziel! Gern würde ich diesen vielversprechenden Ausführungen weiter folgen, muss dann aber mit der Leitung meines eigenen Workshops beginnen.

Am Nachmittag bin ich im gut besuchten Forum mit Frank Natho, der die Teilearbeit mit Tierfiguren und Tiermetaphern sehr anschaulich erklärt und dann an einem Fallbeispiel erläutert. Etwas störend finde ich, dass die »Klientin« keinen wirklichen inneren Konflikt hat, aber anhand ihres »Konflikts« die Arbeit zu Entscheidungskonflikten demonstriert wird.

Abends findet dann in der Festung Mark das Tagungsfest zum Motto »Feelings and Fantasy« statt. Es ist wirklich ein tolles Ambiente mit vielen virtuellen Flammen an den Wänden und draußen auch realen. Feuertänze und ein Feuerwerk vom Dach lassen den ganzen Burghof in leuchtenden Farben erstrahlen. Die Essensausgabe ist allerdings ziemlich schlecht organisiert und für mich als Vegetarierin auch nicht der große Clou. Die Band »Tänzchentee« und ein Solosaxofonist sorgen für eine schöne Stimmung, wenn auch der Bandleader einen mir fremden Humor an den Tag legt. Trotzdem tanze ich bis in den frühen Morgen mit den vielen Menschen, die ich inzwischen nun in diesem mir immer mehr ans Herz gewachsenen Verband kenne, und feiere mit ihnen ein insgesamt sehr gelungenes Fest.

Am Samstag Morgen nach einer viel zu kurzen Nacht habe ich noch die Freude, Eia Asen aus London zur mentalisierungsinspirierten Arbeit mit Familien (Mbt-F) zuhören zu dürfen. Es ist ein Genuss! Die Mbt-F ist die Fähigkeit, eigenes Verhalten und das anderer zu inspirieren und zu verstehen, sich selbst von außen und andere von innen zu sehen. Also im besten Sinne zirkulär! Eia Asen zeigt mit bildhaften Beispielen, worauf wir bei der Mbt-F achten sollten; zum Beispiel bewundert er Fernsehkommissar Columbo, der in Persona eine gewisse sichere Unsicherheit, als ein Wissender Nichtwissen verkörpert. Wichtige Aspekte der Mbt-F sind :

  • Multiperspektivität
  • Multipositionalität (flexibles Sitzen auf dem Stuhl)
  • Subjektive (auto-)biografische Kontinuität

Besonders gut gefällt mir die humorvolle Vortragsweise von Eia Asen, die eine spielerische Komponente sehr deutlich in den Raum bringt. Spätestens als er die Instrumente des Mentalisierens per Fotos an die Wand beamt, ist der Humor im Saal angelangt. Mithilfe des Stethoskops und des weißen Kittels, aber auch mit dem Psychoperistaloskop, dem Mammiskop, dem Pappiskop und dem Kiddoskop sowie den Rosa Brillen mit Blümchen fördert er die Mentalisierungsfähigkeit seiner Klientensysteme und bringt viele von uns zum herzhaften Lachen, Aufgrund anderer Verpflichtungen endet die Tagung für mich an dieser Stelle. Es bleibt mein Dank an die Magdeburger Tagungsteamgruppe für so viele liebevolle Impulse und die riesengroße Organisationsleistung und natürlich auch an die DGSF für diesen Raum, in dem sich immer wieder unzählige neue Möglichkeiten eröffnen und systemische Netzwerke immer weiter gesponnen werden.

Auf der nächsten DGSF Jahrestagung wünsche ich mir mehr Rednerinnen, mehr Frauen in den Hauptvorträgen. Und es bleibt die Frage, ob die Tagung ihren eigenen Anspruch, eine wissenschaftliche Jahrestagung zu sein, aufrechterhalten will. Oder könnte im Titel das benannt werden, was jetzt meiner Meinung nach im Zentrum der Jahrestagung steht und sie für mich so wertvoll macht: Jahrestagung der DGSF 2016 – Impulse aus Theorie und Praxis zur Systemischen Familientherapie und Beratung.

Korrespondenzadresse: Dr. Julia Strecker, Hültzstrasse 29, 50933 Köln; E-Mail: julia.strecker@gmx.de