Tagungsbericht unmöglich ?
... Ein Tagungsbericht?
... Mir leider unmöglich, liebe DGSF!
Unmöglich, mich unter all den klugen, brillianten Köpfen adäquat auszudrücken (schließlich handelt es sich um eine wissenschaftliche Jahrestagung!).
Unmöglich, nur annähernd so amüsant und kurzweilig zu berichten wie der Kassenprüfer auf der Mitgliederversammlung.
Unmöglich, Worte zu finden, in denen sich wenigstens ein kleiner Teil der 900 (!) TeilnehmerInnen (die Zahl habe ich mir sagen lassen – auf dem bezaubernden Campus der Goethe Universität in Frankfurt fühlte es sich an wie maximal 200) punktuell wiederfinden kann.
Unmöglich, nichtanwesenden DGSF-Mitgliedern auch nur eine Ahnung davon zu vermitteln, was sie versäumt haben.
Ganz zu schweigen von den Risiken und Nebenwirkungen des geschriebenen Wortes – wozu also sollte ich mir die Mühe machen?
Dummheit? Übermut? Die tiefe innere Überzeugung, dass es sich lohnt, diese Form des miteinander Lernens, des Austausches und der Begegnung publik zu machen? Die Chance für die restlichen 5800 Mitglieder, etwas darüber zu erfahren?
„Systemisch - wirksam - gut“ – so lautete der Arbeitstitel der diesjährigen Tagung. Wer „quadratisch - praktisch“ erwartet hatte wurde enttäuscht.
„Vielfältig komplex“ (in den Vorträgen und Workshops) „kontrovers“ (in den Gesprächen) trifft es eher.
Die mutige Entscheidung des ausrichtenden Instituts wispo, die Tagung mit zwei parallel laufenden Themensträngen
- Bewährte und innovative Methoden systemischer Veränderungsarbeit
- Systemisches Verständnis zu und über gesellschaftspolitisch aktuell brennende(n) Fragen
anzulegen, führte zu einer permanenten Wechselwirkung im Austausch in den Zwischenräumen (ob nun zufällig entstanden oder verabredet in den Pausen). Die Gespräche wechselten in Windeseile von der Metaperspektive der eigenen Lebenswelten und Möglichkeiten (mit all den Überlegungen, welche Tools wer, wie, wo, wann sinnvoll nutzen könne) zur Metaperspektive über die strukturellen Gegebenheiten auf gesellschaftspolitischer Ebene bis hin zu globalen Zusammenhängen (über vorherrschende Strukturen, die Erschütterung angesichts der Machtverhältnisse, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten und Fragen nach möglichen kreativen Ideen zur drängend notwendigen Veränderung). Brilliante Analysen in den gesellschaftspolitischen Vorträgen und lebhafte Diskussionen sorgten mitunter für hyperkomplexe Verwirrung. Spürbar war ein aktives Engagement im Mitdenken und Suchen nach Antworten oder weiterführenden Fragen.
2 Themenstränge, 4 Hauptvortäge, mindestens 23 Workshops – jeweils gleichzeitig – teilten die Tagungsgemeinschaft in kleine dauernd wechselnde Gruppierungen auf. Glücklicherweise erlaubte die Tagungsorganisation Veränderungen im laufenden offenen Prozess, so dass am Ende wohl vermutlich viele ihr geistiges Tagungsmenue anders gegessen haben als sie es Wochen zuvor bestellt hatten. Ein Wehrmutstropfen für mich, dass es nur eine einzige Veranstaltung für das Plenum gab: Die Verabschiedung – und zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich da bereits den Heimweg angetreten habe (dass ich aufgrund Verzögerungen durch die Bahn 3 Stunden Zeit verlieren würde, konnte ich vorab nicht wissen ... aber das ist eine andere Geschichte).
Am Rande klangen Tabuthemen an, existentielle Fragen von Beratern, Therapeuten oder Instituten, die meiner Einschätzung nach bislang allesamt die Konkurrenzthematik ausgeklammert hatten. Ebenso Befindlichkeiten innerhalb des Verbandes, der ebenso wie jedes einzelne Mitglied allen menschlichen Themen zugänglich ist (wer weiß es besser, systemischer,...). Ermutigend wirkten die Überlegungen am Ende, Gremien wie „Zukunftsräte“ innerhalb des Verbandes der Systemiker „im Labor“ auszuprobieren und damit zu experimentieren. Aktive kreative Einmischung und Diskurs darüber sind ausdrücklich erwünscht!
Mein persönliches Fazit: Aufgetankt mit sprudelnden Ideen (zur Kraft der Kriegsenkel, mit der szenischen Darstellung von Kommunikationsmustern in Familien, zum Ausstieg aus der Megamaschine, zum Umgang mit rechtsradikaler Haltung, zur Unterwerfung als Freiheit,...) habe auch ich als Teilnehmerin garantiert mehr versäumt als ich mitnehmen konnte. Was von den neuen Gedanken in meinem professionellen und privaten Alltag sich wie niederschlägt, darauf bin ich gespannt. Und neugierig, was die KollegInnen berichten werden bei der Frühjahrstagung in Leipzig und bei der kommenden Jahrestagung des misw in München mit dem konsequent darauf aufbauenden Titel „Von der Neutralität zur Parteilichkeit – SystemikerInnen mischen sich ein“ im Oktober 2017. Und als vorweggenommene Lösung in frustrierenden Momenten tröste ich mich bis dahin mit den Worten von Nora Bateson „I love complexity“. Auch wenn der Bericht simpel geworden wäre. Wenn ich ihn geschrieben hätte.
Marlies Hinderhofer