(Ein)mischen (Im)possible?
Als am Samstag, den 14.10.2017, die verbliebenen ca. 300 Teilnehmer*innen der diesjährigen DGSF-Jahrestagung in München begeistert Beifall klatschten, war dies nicht nur dem Auftritt des Veranstalters Tobias von der Recke als Leadsänger der Band beim Tagungsfest am Vorabend geschuldet: Vielmehr war es Ausdruck hohen Respekts vor den Veranstalter*innen und großer Zufriedenheit mit einer in vielerlei Hinsicht besonderen Veranstaltung!
Unter dem Titel „Von der Neutralität zur Parteilichkeit – Systemiker*innen mischen sich ein“ hatte das Münchner Institut für systemische Weiterbildung (misw) eingeladen und rund 600 Teilnehmer*innen folgten der Einladung. Und für sie erwies sich die Teilnahme als überaus wertvolle Mischung aus fachlichem Input, kollegialem Austausch und persönlicher Berührung.
Und dabei hatte die Tagung mit dem Schlimmsten begonnen, was man sich als Veranstalter ausmalen mag, nämlich mit der kurzfristigen Absage der ersten Keynote-Speakerin Sabine Bode, die mit ihren Veröffentlichungen zu den mehrgenerationalen Wirkungen von Kriegs- und Nachkriegserlebnissen sicher eine der Attraktionen des Programms darstellte. Ihre Abwesenheit wurde aber durch einen sehr persönlichen und berührenden Vortrag von Valeska Riedel ausgeglichen. Sie schilderte aus eigener Erfahrung, wie Kriegserlebnisse ihrer Mutter ihr eigenes Leben über lange Zeit geprägt haben und noch bis heute beeinflussen. Mit diesem Auftakt war persönliche Betroffenheit als ein wichtiger Eckpfeiler des Tagungsthemas gesetzt.
Einen ganz anderen Zugang zum Thema wählte der Soziologieprofessor Armin Nassehi von der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er befasste sich mit der „Ästhetik der Flüchtlingskrise“ und ging der Frage nach, welche Bilder durch die mediale Vermittlung des Migrationsgeschehens in Europa ausgelöst und bedient werden. Aus neun verschiedenen Perspektiven arbeitete er heraus, wie die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015 von zahlreichen Interessengruppen instrumentalisiert wurde und wird – und das wahrlich nicht nur vom rechten Rand der Gesellschaft her. So wurde sein Beitrag zu einem eindringlichen Appell an die systemische Szene, sich gesellschaftlich einzubringen – in jedem Fall als Mitglieder der Zivilgesellschaft, durchaus aber auch als fachkompetente Professionelle und als Verband.
Im Kontrast dieser beiden ersten Hauptvorträge am Donnerstag zeigte sich damit auch der Spannungsbogen des Themas – und er sollte sich an den folgenden Tagen fortsetzen und differenzieren.
Heiner Keupp, emeritierter Professor für Sozial- und Gemeindepsychologie aus München und Kommissionsvorsitzender für den 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, entwarf zunächst ein eher düsteres Bild der postmodernen Gesellschaft in Deutschland. Eindrücklich legte er dar, wie die neoliberale Marktideologie in Verbindung mit der zunehmenden Individualisierung seit den 1980er Jahren die Gesellschaft spaltet und entsolidarisiert. Er leitete daraus die Notwendigkeit eines „zivilgesellschaftlichen Aufbruches“ ab und fragte direkt nach der Bereitschaft der Systemiker*innen, sich daran zu beteiligen. Die systemische Grundhaltung mit den Ideen von Empowerment, Partizipation und Selbstwirksamkeit bietet aus seiner Sicht dazu eine sehr geeignete Grundlage.
Tobias von der Recke schloss unmittelbar daran an und präsentierte die Ideen Haim Omers als geeignete Strategien für bürgerschaftliches Engagement und politische Praxis. Insbesondere zunehmenden Forderungen nach autoritären Lösungen ließe sich damit entgegentreten und Utopien einer gewaltfreieren und solidarischeren Gesellschaft befördern. Er untermauerte dies noch mit dem Verweis auf Hannah Arendts Satz, dass niemand das „Recht zu gehorchen“ habe. Parteilichkeit sei hier dann vor allem eine Forderung für bürgerschaftliches Engagement, weniger für den beraterisch-therapeutischen Kontext.
Das Bedürfnis nach analytischer Betrachtung und theoretischer Einordnung bediente im Anschluss Tilly Miller, Professorin für soziale Arbeit und Politikwissenschaft an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München. Unter der Überschrift „Sich kümmern um das Zeitgemäße“ lud sie dazu ein, nicht nach einer einzigen Theorie zur Welterklärung zu suchen, sondern sich die Bausteine diverser theoretischer Ansätze zunutze zu machen. In kurzen und prägnanten Zusammenfassungen skizzierte sie jeweils die Grundzüge von System- und Netzwerktheorie, um diese dann in Relation zu modernen Konzepten der Zivilgesellschaft und dem Governance-Ansatz zu stellen. Sie leitete daraus die Forderung nach einer gesellschaftlichen Mehrebenen-Steuerung ab, in der neue Möglichkeiten der Beteiligung und Einflussnahme entstünden. Damit eröffne sich die Chance, Ohnmachtsgefühle in das Erleben von Selbstwirksamkeit umzuwandeln und Veränderungsprozesse nicht nur als Zerfall des Bestehenden zu deuten, sondern als Möglichkeit zur Entwicklung neuer Perspektiven.
Nach einer Pause betrat dann Dr. Stefan Marks das Podium. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit dem Zusammenhang von Scham und Menschenwürde und bezeichnet Scham als „tabuisierte Emotion“ sowie „Wächterin der Menschenwürde“. In einem einerseits sehr unterhaltsamen, andererseits sehr berührenden Vortrag gelang es ihm, die Bedeutung von Schamgefühlen für Ausgrenzung, Gewalt, Entsolidarisierung und Extremismus herauszuarbeiten. Daraus entwickelte er anschließend den Aufruf, sich eigenen Schamgefühlen zu stellen und ihnen Raum zu geben, um auf diese Weise Würde wiederherzustellen. Die Sicherung menschlicher Bedürfnisse nach Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und persönlicher Integrität erhob er zur zentralen Forderung und verlieh seinem Vortrag damit zum Abschluss (dem Tagungsmotto entsprechend) eine eminent politische Note – sowohl in Bezug auf das Pflege-, Gesundheits- oder Schulsystem, als auch hinsichtlich der Zuwanderung.
Am Samstagmorgen zeigte sich der Leadsänger des Vorabends erstaunlich fit und kündigte Dr. Wolfgang Schmidbauer zum Thema „Das unmögliche Geschäft der Allparteilichkeit“ an. Der Psychoanalytiker, Professor und Autor brach eine Lanze für die Allparteilichkeit und grenzte diese gegenüber dem Begriff der Neutralität ab, den er als entweder ideologisch verschleiernd oder als feige zurückhaltend charakterisierte. Er bezeichnete beraterisch-therapeutische Praxis als „nicht per se emanzipatorisch“ und rief ebenfalls dazu auf, sich auch als Psychotherapeut*in gesellschaftlich zu engagieren. Neben dem zivilgesellschaftlichen Engagement hob er auch die Möglichkeiten des berufspolitischen Einsatzes hervor und warnte vor Entwicklungen des Gesundheitssystems, die zu immer mehr defensivem Verhalten von Heilberuflern führen würden. Hier benannte er vor allem die immer stärker werdende Tendenz zur Schadensvermeidung als oberster Priorität, die jeder Kreativität die Luft nehme. Demgegenüber forderte er von der Psychotherapie stärkeren Einsatz zur Verteidigung bzw. Zurückgewinnung von Freiräumen.
Im Schlussvortrag zeichnete Prof. Dr. Jochen Schweitzer vom Institut für Medizinische Psychologie der Universität Heidelberg und gesellschaftspolitischer Sprecher der DGSF zunächst den Tagungsverlauf nach. Dabei warf er auch die Frage auf, inwieweit ein ausdrücklich politisch geprägtes Tagungsthema dazu beigetragen haben könnte, dass eine eher kleine Zahl an Teilnehmer*innen nach München gekommen war. Er zeigte sich überzeugt, dass bei der Formulierung von Grundwerten (wie von der AG Gesellschaftspolitik durchgeführt) ein relativ breiter Konsens im Verband nicht allzu schwierig herstellbar sei. Wenn es jedoch um die praktische Umsetzung im konkreten Verhalten geht – sowohl in einer beraterisch-therapeutischen Rolle als auch als Mitglied der Zivilgesellschaft – würden sich große Unterschiede vermutlich schnell herausstellen. Vor diesem Hintergrund war der Aufruf, sich sowohl gesellschaftspolitisch, als auch berufspolitisch weiterhin zu engagieren und auch innerhalb des Verbandes die Auseinandersetzung zu führen, absolut schlüssig. Davon profitieren können unsere Klient*innen ebenso wie wir selbst, der Verband und die Gesellschaft – schließlich bestreitet niemand, dass große gesellschaftliche Veränderungen weiterhin zu erwarten sind!
Natürlich wurde auch diese Tagung durch eine große Zahl an Foren und Workshops abgerundet, in denen Gelegenheit bestand, sich fachlich-methodisch, fachpolitisch oder persönlich auszutauschen und auseinander zu setzen. Mein persönliches Highlight möchte ich hier nicht unerwähnt lassen: Der Besuch der KZ-Gedenkstätte in Dachau unter der Leitung von Dr. Helmut Wetzel verband Persönliches, Fachliches und Politisches und trug so wesentlich zu meinem persönlichen Fazit bei, das da lautet „Einmischen erforderlich!“
Matthias Richter
Hamburgisches Institut für systemische Weiterbildung (HISW)