Ich, Du und die anderen …
Tagungsbericht von Georg Schobert
Zwei Tage vor Tagungsbeginn hat mich Bernhard Schorn von der Geschäftsstelle der DGSF gefragt, ob ich zu dieser Tagung einen Bericht schreiben würde. Ich stimmte, obwohl darauf völlig unvorbereitet, zu unter der Voraussetzung, dass er sehr subjektive Eindrücke von mir zu dieser Tagung zu erwarten hätte. Das sollten auch die Leserinnen und Leser wissen. Bei meinen Beschreibungen handelt es sich immer nur um einen von mir selbst gewählten Ausschnitt eines Ganzen. Das betrifft die Zahl und Auswahl der Veranstaltungen und was ich davon zu berichten bereit und in der Lage bin.
Erster Tag:
Die Tagung wurde eröffnet im großen Hörsaal mit einer herzlichen Begrüßung aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die sich dafür schon eingefunden hatten und noch kommen würden. Veranstalter und ausgewählte Personen aus Politik und Gesellschaft stimmen mit ihren Grußworten auf die Tagung ein. Ein Ritual, das ansprach und das eigene Ankommen erleichterte.
Die fachliche Einstimmung auf den Tagungstag übernahm Prof. Dr. Jürgen Kriz mit seinem Vortrag zum Thema „Ohne Dich und die anderen gäbe es kein „ich“ – Doch wer seid ihr in meiner Lebenswelt?“ Auf der Grundlage der „personenzentrierten Systemtheorie“ beschrieb er, wie sich körperliche, psychische, interpersonelle und kulturelle Prozesse gegenseitig bedingen, dass daraus dynamische Stabilitäten entstehen. Therapie, die Klienten in deren Selbstorganisation unterstützen will, nutzt die Möglichkeit, mit ihnen diese wechselseitige Bedingtheiten ihrer Muster zu erforschen und in ihren Auswirkungen auf die Selbstorganisation zu erkennen. Wenn z. B. Glaubenssätze, die in ihrem Entstehungskontext Sinn erzeugten, ein Leben lang Leitsätze bleiben, können sie zu Leid erzeugenden Sätzen im Leben eines Menschen werden, wenn er sie den Kontextbedingungen für das Leben im Hier und Jetzt nicht anpassen kann. Kriz hat meine Erwartungen an einen Keynote-Vortrag auf seine Weise sehr gut erfüllt.
Meine Wahl für den nächsten Vortrag fiel auf Tom Levold mit dem Thema „Selbstorganisation, Autopoiesis und Kybernetik II im systemischen Diskurs zwischen Konfusion und Mystifikation“. Ich nehme es gleich vorweg: Einen solchen Vortrag kann ich wohl nur von ihm bekommen. Wieder einmal hat er mit einem hoch reflektierten Wissen zur geschichtlichen und inhaltlichen Entwicklung dieses Diskurses brilliert. Engagiert und ohne jede Polemik nimmt er die Zuhörer mit hinein in seine Betrachtungsweisen und überzeugte mit Unterschiedsbildungen bei Definitionen und Konzepten, die diesen Diskurs beeinflusst haben. Er plädierte für eine Entwicklung von einem präreflektierten Selbst zu einem reflektierten Selbst. Ein Selbst mit Bezügen zu Körper, Psyche und Sozialität, die sich wandeln und damit das Selbst in diesen Wandel mit hineinnehmen.
Nach dem Vortrag noch ein Hinweis von Levold auf sein Werk: „Die Geschichte des systemischen Ansatzes“. Dieses kann im Internet aufgesucht werden und ist eine Art „Wikipedia“ für systemisch Denkende und Handelnde. Danke Tom Levold, ich werde es gerne nutzen!
Nach dem Vortrag lerne ich auf dem Weg zur Mensa einen Mann kennen. Wir tauschen einige Belanglosigkeiten aus und bleiben darüber im Gespräch. Es stellt sich heraus, dass wir gerade beide im Vortrag von Tom Levold waren und sprechen davon, was uns besonders gefallen hat. Daraus entwickelt sich ein tieferes Gespräch über die Ausführungen von Levold zu der Rolle von Niklas Luhmann im systemischen Diskurs zum Vortragsthema. Danke, Norbert aus Köln für dieses anregende Gespräch. Auch das war Teil der Tagung und steht beispielhaft für die vielen Gelegenheiten zum Kennenlernen von Menschen und Austausch von Meinungen.
Am Nachmittag fällt ein Workshop, den ich gerne besucht hätte, aus. Ich entschied mich für einen Spaziergang im Freien und im Anschluss suchte ich einige Tische und Stände im Gebäude auf, um mich über dies und das zu informieren.
Den zweiten Workshop für mich an diesem Tag hielten Sabine Lück und Ingrid Alexander zum Thema: „Heimlich Herrscher – Der unbewusste Beschluss des Grandiosen Kindes mit seinen Auswirkungen auf die Beziehung zu Anderen und zu sich selbst.“ Dieses Thema begegnet mir in meiner Praxis häufig und ich habe dafür selbst ein Konzept für die Arbeit mit Klienten entwickelt. Nach einer Einführung und Vorbereitungen erlebte ich eine Live-Arbeit mit einer Teilnehmerin am Workshop. Mein Interesse richtete sich auf das methodische Vorgehen bei der Arbeit. Einiges mache ich in meiner Arbeit ähnlich, dachte ich mir, bis zum Schluss der Demonstration im Workshop der erwachsenen Frau für das Mangelerleben ihres inneren Kindes ein „heilendes Elexier“ angeboten wurde. Dieses bestand darin, dass für das innere Kind eine idealisierte Mutter (eine für diese Rolle instruierte Teilnehmerin) erschien und sich dem Leid des inneren Kind verständnisvoll zugewendet hat. Ich bleibe bei meiner Methode, bei der die erwachsene Person sich selbst um ihre inneren Kinder kümmert und sie so, wie sie es gerade brauchen, an die Hand nimmt. Das ist, glaube ich, für die Selbstorganisation dieser Person förderlicher und nachhaltiger.
Zweiter Tag:
Keynote-Vortrag von Ariadne von Schirach zu Thema „Lebenskunst und Lebenssinn“. Eine sehr lebendige, philosophische Betrachtungsweise zum Thema, bei der sie über personelle und interpersonelle Grenzen hinaus zu gesellschaftlichen und globalen Bezügen und deren Auswirkungen für die Selbstorganisation blickte.
Ich erinnere einige Sätze aus dem Vortrag wie „Liebe rechnet sich nicht, aber sie lohnt sich“ oder „nach der Einsicht kommt die Aussicht“. Für gelingende sinnhafte Selbstorganisation setzte sie eine Prämisse voraus. Sinngemäß gebe ich diese so wieder. Menschen können nichts dafür, in welche Welt sie hineingeboren werden, aber alles, wie sie damit umgehen. Dafür tragen sie die volle und alleinige Verantwortung. Für das praktische Arbeiten schlug sie vor, das Bewusstsein für den Selbst- und Weltbezug bei uns und anderen zu fördern, damit wir unsere Automatismen erkennen und unsere Gewohnheiten verändern können. Insgesamt eine gelungene Performance von Frau von Schirach mit ihrem Publikum.
Nach einer weiteren Runde „Qual der Wahl“ entschied ich mich für einen Impulsvortrag von Dr. Joseph Rieforth zum Thema: „Wunschkompetenz und die Entwicklung des Selbst“. Ich hatte mich ja bereits für die Teilnahme an seinen Workshop am Nachmittag entschieden.
Ich erlebte eine kompetente Einführung in ein von ihm entwickeltes Theoriekonzept, das einer von ihm entwickelten Methode für die Unterstützung von gelingender Selbstorganisation in der Beratungspraxis zu Grunde liegt. Sehr anschaulich und nachvollziehbar war dann die Demonstration der Methode im Workshop, die die einzelnen Arbeitsschritte für die Unterstützung von Klienten bei deren Selbstentwicklung zeigte. In der von mir wieder stark vereinfachten Beschreibung der Methode ging es dabei darum, in einem Beratungsprozess Menschen ausgehend von ihrem Problemerleben mit ihren eigentlichen Wünschen (wieder) in Kontakt zu bringen, um sich dann ihr eigenes Potenzial für ihre Ideen von Veränderungen (wieder) nutzbar machen zu können. Ich habe diese Methode für in sich schlüssig und wirksam empfunden. Sie wird von Rieforth in einem Buch beschrieben, das unter dem Titel „Wunschkompetenz“ 2019 erscheinen soll.
Am Abend habe ich das Tagungsfest besucht. Ich hatte wieder schöne Gelegenheiten bei Speis und Trank und Musik und Tanz „alte Bekannte“ zu treffen und mit neuen Menschen der großen „systemischen Familie“ Bekanntschaften zu machen. Nicht der Musik, sondern der Einschätzung meiner Kraftreserven war es geschuldet, dieses Mal nicht bis zum Schlussapplaus für die Band zu bleiben.
Dritter Tag:
Auftakt mit dem Keynote-Vortrag von Prof. Dr. Claus Eurich zum Thema: „Aus der Perspektive des Möglichen wird das Unterwegssein zum Zaubertrank für Abschied und Neubeginn“. Seine Grundthese habe ich so verstanden: „Noch immer glauben wir unsere Identität durch Abgrenzung finden zu können. Als Folge steht das Überleben des Menschen an sich auf diesem Planeten mittlerweile zur Disposition“.
Eurich plädierte in seinem Vortrag für ein neues Empfindungsbewusstsein für Verbundenheit und die Aufhebung der Trennung zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Natur. Er versteht sich dabei in einer ehrenvollen Tradition vieler Denker und Mahner in der Geschichte der Menschheit und belegte dies eindrucksvoll mit zahlreichen Zitaten von A. Einstein, I. Kant, M. Gandhi, H. Arendt und anderen. Aber noch immer sind wir nicht auf dem evolutionären Niveau angekommen das wir brauchen, um zu überleben. Das Zusammenspiel von Kognition, Emotion, Intuition, Weisheit und eine Durchbrechung unserer Bewusstseinsschranken mit Hilfe der Kontemplation seien die fünf Säulen einer integralen Vernunft, die für eine Aufhebung der Trennung von Mensch und Natur zieldienlich sind. Erst das „Kairos-Bewusstsein“ befreit uns von unserer Abhängigkeit von äußeren Verhältnissen und Zwängen und eröffnet uns so neue Möglichkeitsräume für ein Leben in Verbundenheit und Liebe zum Leben. Ich möchte hinzufügen: wenn es dafür nicht zu spät ist. Für mich war es ein Vortrag, der die Notwendigkeiten und Möglichkeiten eines Paradigmenwechsels von der Selbstbetrachtung des Menschen hin zu einer Koexistenz von Menschen mit ihrer Umwelt beschrieben hat.
Als letzten Vortrag habe ich mir Prof. Dr. Stefan Schmidt mit dem Thema „Wie frei sind wir wirklich? Zwei Sichtweisen auf die neurowissenschaftliche Debatte um den freien Willen“ ausgesucht. Nach dem Vortrag von Eurich fiel es mir eher schwer, mich auf die wissenschaftlichen Untersuchungen und deren Schlussfolgerungen einzulassen. Ich habe im Wesentlichen zwei Aussagen mitgenommen: Wenn es eine menschliche Handlung gibt, konnte bei den Untersuchungen im Gehirn ein Bereitschaftspotenzial dafür festgestellt werden. Und – wenn ein Bereitschaftspotenzial vorhanden ist, folgt daraus nicht zwangsläufig eine Handlung. Da bin ich aber echt erleichtert. Freiheit, so Schmidt, ermöglicht zwar das Erleben von Selbstbestimmung, lässt sich aber mit neurobiologischen Untersuchungen (noch) nicht beweisen. Ich bin damit zufrieden.
Ich habe von meinem Erleben in den von mir ausgewählten Veranstaltungen berichtet. Ein vollständigerer Bericht von dieser Tagung, die ich mit ihren umfangreichen und interessanten Angeboten für sehr gelungen geplant und durchgeführt halte, war mir nicht möglich.
Eines wurde mir nach dieser Tagung deutlich, wie sehr die DGSF inzwischen auch bei den gesellschaftspolitischen Themen unseres Alltags angekommen ist.
Bamberg, 27.09.2018
Georg Schobert