Und es bewegt sich doch!
Die DGSF-Jahrestagung zum Thema „Systemisch-interkulturelle Arbeit in der Einwanderungsgesellschaft“ hätte bereits 2021 stattfinden sollen, wurde aber wegen der Pandemie verschoben. Am 14. September startete nach vierjähriger Vorbereitungszeit endlich das Tagungskarussell im Wiesbadener Kurhaus. Bei bestem Spätsommerwetter bot die zweieinhalbtägige Tagung den rund 500 Teilnehmenden ein umfangreiches Programm mit zehn Hauptvorträgen, fast 50 Workshops und einem vielfältigen Rahmenprogramm.
Nach Grußworten aus der Politik, dem Vorstand der DGSF und von der Schwestergesellschaft SG sowie von der europäischen Familientherapievereinigung EFTA eröffnete Benjamin Bulgay, Leiter des ausrichtenden Wiesbadener „Lern-Planeten“ und dessen Weiterbildungsinstituts SIK, den Vortragsteil. Er veranschaulichte kurzweilig einige Grundlagen der interkulturellen Arbeit. Anschließend befasste sich Astride Velho, Professorin an der Internationalen Hochschule, mit Begriffen, Spannungsfeldern und unterschiedlichen interkulturellen Zugängen zu zentralen Fragen in einer Migrationsgesellschaft.
Auch der Kreis der Referierenden wurde global: Auma Obama, Schwester des ehemaligen amerikanischen Präsidenten und weltweit gefragte Keynote-Speakerin, fesselte das Publikum. Sie veranschaulichte, dass Diskriminierung und Abgrenzung in Zeiten der Globalisierung ziemlich aussichtslos sind. “Kulturelle Vielfalt ist so natürlich wie atmen“, war eines ihrer eingängigen Statements oder: Wenn sich jemand ihr gegenüber rassistisch verhalte, drehe sie sich um und gehe: „Dazu habe ich keine Zeit“.
Es folgten zwei weitere inspirierende Hauptvorträge: Celia Jaes Falicov, Professorin an der University of California, San Diego, plädierte für „cultural humility“ und Reenee Singh, London, berichtete über ihre Arbeit mit interkulturellen Paaren. Nach der Mittagspause gab es die Möglichkeit, mit den Hauptreferierenden ins Gespräch zu kommen und Fragen zu stellen. Für die Pausen hatte der Lern-Planet ein unterhaltsames Rahmenprogramm mit Musik, Tanz, Stadtbesichtigung oder einer interkulturellen Modenschau vorbereitet. Auf einer „Reise durch die Kontinente“ wurden Beispiele der systemischen Arbeit in verschiedenen Ländern vorgestellt.
Der Freitag startete mit einem Vortrag über interdisziplinäre systemische Versorgung in Erstunterkünften für Geflüchtete in Bayern. Andrea Hahnefeld, Projektleiterin der dortigen „Interdisziplinären Sprechstunde für Kinder, Jugendliche und Familien mit Fluchthintergrund“, und Matthias Klosinski, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Professor in München, berichteten, dass in ihrer Arbeit in den „Ankerzentren“ vor allem drei- bis sechsjährige Kinder im Fokus stehen, da für diese Altersgruppe die größte Unterversorgung herrsche. Anschließend hinterfragte Kirsten Nazarkiewicz, Professorin für interkulturelle Kommunikation an der Hochschule Fulda, Alltagssituationen „kulturreflexiv“ und plädierte für eine „aufgeklärte kultursensible Systemik“. Barbara Bräutigam, Professorin an der Hochschule Neubrandenburg, stellte „schöne Literatur“ als gewinnbringend für die Weiterentwicklung von systemisch interkultureller Therapie und Beratung vor.
Letzter Hauptreferent am Freitag war Ahmad Mansour, deutsch-israelischer Psychologe und Autor arabisch-palästinensischer Herkunft. Er betonte, dass Integration nicht zuletzt eine Bringschuld der Zugewanderten sei. Es komme darauf an, Zugewanderte besser und länger zu begleiten, um Ängste vor einem Identitätsverlust zu verringern. Zudem sei der Abbau von patriarchalen Strukturen notwendig und solle als Chance vermittelt werden. Eine besondere Herausforderung sei schließlich der Umgang mit der deutschen Vergangenheit und ein Teil der Integrationsaufgabe bestehe auch darin, eine Anti-Israel-Haltung aufzulösen.
Beim rauschenden Tagungsfest am Freitagabend tanzte der Kongress zunächst zu Live-Musik einer Latin-Band. Mit der anschließend auftretenden Rock -’n’-Roll-Band ging es weiter bis in den frühen Morgen.
Ein wenig gelichtet hatten sich die Reihen dann am Samstag um neun Uhr morgens. Michael May, Professor an der Hochschule RheinMain, stellte interessante Forschungsergebnisse zu „Passungsverhältnissen“ zwischen fünf empirisch rekonstruierbaren Beratungsstilen und unterschiedlichen Erwartungen an die Beratung vor. Es gebe deutliche soziokulturelle Unterschiede bei den Erwartungen, aber keine ethnischen. Einen Blick über den nationalen Tellerrand hinaus bot schließlich auch der letzte Hauptvortrag, den sich Matthias Ochs, DGSF-Vorsitzender und Professor an der Hochschule Fulda, und Dirk Rohr, Uni Köln, aufgeteilt hatten. Beide berichteten aus ihren internationalen Erfahrungen. Ochs betonte die Bedeutung der Multiprofessionalität und interdisziplinären Prävention im Bereich Mental Health. Rohr forderte dazu auf, den Begriff der Neutralität kritischer zu diskutieren und präsentierte zehn (Veränderungs-)Perspektiven – dabei seine Aufforderung, systemische Ideen weiter nach außen zu tragen und (als Herausgeber einer Buchreihe): „Seien Sie mutig und schreiben Sie Bücher!“
Bevor der Kongress zu Flamenco-Musik und -Schritten angeleitet von Tanja Stein vom Lern-Planeten aus dem beeindruckenden Saal des Wiesbadener Kurhauses tanzte, stand – neben dem Dank der DGSF an den Veranstalter – noch Weiteres auf dem Programm: der Systemische Forschungspreis und die Verleihung des Gütesiegels „DGSF-empfohlene systemisch-familienorientiert arbeitende Einrichtung“ an die Tagesklinik für Kinder-/Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Mathias-Stiftung, Rheine, sowie – zum zweiten Mal – an die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Zentrums für Psychiatrie Südwürttemberg, Wangen. Der mit 3.000 Euro dotierte Forschungspreis von DGSF und SG ging an Bernhild Pfautsch für ihre Dissertation „Systemische Familientherapie in Kambodscha – Eine empirische Untersuchung zu Aspekten kultureller und kontextueller Passung für die Entwicklung einer Weiterbildung“.
Bericht: Bernhard Schorn
Bericht von der DGSF-Jahrestagung „Karussell der Kulturen“ in Wiesbaden