Tatort Familie: Elternmisshandlung nimmt zu - mehr erzieherische Präsenz zeigen

Gewalt in der Familie sei kein neues Thema, Gewalt von Kindern gegen ihre Eltern hingegen schon. Elternmisshandlung werde "in ganz erstaunlichem Maße tabuisiert und in der Wissenschaft kaum behandelt", erklärte Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Wilhelm Rotthaus kürzlich bei einem familientherapeutischen Kongress in Magdeburg. Der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie und Familientherapie (DGSF) schilderte auf deren Jahrestagung die zunehmenden Fälle der körperlichen Misshandlung von Eltern durch deren Kinder: "Kinder werfen mit Gegenständen nach ihren Eltern, stoßen sie hin und her und gehen mit Faustschlägen und Tritten auf sie los."

Die betroffenen Eltern seien erst in äußerster Not bereit, ihr Familienproblem gegenüber Verwandten, Bekannten oder aber Therapeuten zu öffnen, da sie ein tiefes Empfinden für die Unnatürlichkeit der Situation hätten und Schuldvorwürfe fürchteten. Rotthaus zeigte in seinem Vortrag auf, welche gesellschaftlichen Veränderungen die Erziehungsbedingungen beeinflusst und dazu beigetragen haben, dass Eltern heute in Erziehungsfragen häufig so unsicher sind. Er zeigte an Beispielen auf, dass Kinder heute bereits zu Beginn des zweiten Lebensjahrzehnts "Jugendliche" werden und dass Eltern einen Großteil der Erziehungsleistung bis zu diesem Alter erbringen müssen. Er forderte Eltern und Erziehende auf, Kinder nicht länger in einem Schonraum künstlich kindlich zu halten. Vielmehr sollten sie dafür sorgen, dass Kinder am Ende des ersten Lebensjahrzehnts soweit erzogen sind, dass sie für die Dinge ihres alltäglichen Lebens eigenständig Verantwortung übernehmen können.

Dauerhafte Hilfen für Eltern und Kinder seien - so führte Rotthaus weiter aus - nur im "Lösungsraum Familie" zu erreichen. In der Kooperation mit dem Jugendlichen und seinen Eltern, möglicherweise auch weiteren Familienmitgliedern oder Bekannten, sei es möglich, alle Beteiligten zu den notwendigen Veränderungsschritten anzuregen. Die Eltern forderte er auf, erzieherische Präsenz zu zeigen, ohne sich auf einen Machtkampf mit ihrem Kind einzulassen. Sie sollten ihre Erwartungen nachhaltig formulieren, ohne dem Jugendlichen vorzuschreiben, auf welche Weise und auf welchem Weg er ihnen nachkommt.

Bei der viertägigen Jahrestagung der "Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie und Familientherapie" (DGSF) im September in der Magdeburger Johanniskirche diskutierten fast 500 Wissenschaftler und Praktiker die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten systemischen Denkens in der Erziehung, Beratung, Therapie, Supervision und Organisationsentwicklung. Das Wort "systemisch" steht dabei für ein Modell des Verstehens und helfenden Handelns, in dem das Problem nicht isoliert betrachtet oder auf nur eine Person bezogen wird, sondern die Beziehungen zwischen den Personen des jeweiligen Systems (wie Familie oder Organisation) im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen und im Lösungsprozess verändert werden. Systemische Lösungen entstehen in der Kooperation aller Beteiligten.

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