Kinofilm "TREASURE - FAMILIE IST EIN FREMDES LAND"

TREASURE - FAMILIE IST EIN FREMDES LAND: Ein Film von Julia von Heinz. Ab 12. September 2024 nur im Kino. Alle Informationen sowie eine Filmrezension von Mitgliedern der DGSF-Fachgruppe Trauma und System gibt es hier.

Inhalt

Kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs reist die New Yorker Musik-Journalistin Ruth Rothwax (Lena Dunham) in Begleitung ihres Vaters Edek (Stephen Fry) nach Polen, um dem Vermächtnis ihrer jüdischen Familie auf den Grund zu gehen. Für Edek, einen Holocaust-Überlebenden, ist es die erste Reise zurück zu den Orten seiner Kindheit. Während Ruth entschlossen ist, die Traumata ihrer Eltern besser zu verstehen, will der stets vergnügte Edek die Vergangenheit ruhen lassen. So sabotiert er Ruths Pläne und sorgt dabei für mehr als nur eine unfreiwillig komische Situation. In dieser erlebnisreichen Woche decken die beiden alte Familiengeheimnisse auf. Aus ihrer brüchigen Beziehung wächst Liebe und tiefes Verständnis.

Mit der Verfilmung des Schlüsselromans „Zu viele Männer“ von Bestseller-Autorin Lily Brett legt die deutsche Filmemacherin und Drehbuchautorin Julia von Heinz (Hannas Reise, und morgen die ganze Welt) ihre bislang ambitionierteste Arbeit vor. In den Hauptrollen brillieren die mit der Kult-Serie „Girls“ bekanntgewordene Lena Dunham sowie der gefeierte britische Ausnahmekünstler Stephen Fry („The Dropout“, WILDE). Durch die Auseinandersetzung mit der erschütternden Vergangenheit ihrer Familie, findet das charismatische Vater-Tochter-Duo im Laufe ihrer Reise endlich wieder einen Weg zueinander. Julia von Heinz inszeniert diese bewegende Familiengeschichte feinfühlig und mit warmem Humor.

TREASURE - FAMILIE IST EIN FREMDES LAND, der im Rahmen der diesjährigen 74. Internationalen Filmfestspiele Berlin in der Sektion Berlinale Special GALA seine Welturaufführung feierte, ist der Abschluss ihrer Aftermath-Trilogie, die sich mit den Auswirkungen des Holocaust auf nachfolgende Generationen beschäftigt.

Kinostart des Films ist am 12. September 2024. Informationen zu allen Städten und Spielzeiten sind hier hinterlegt.

Bildmaterial: Anne Wilk und Lukasz Bak, Alamode Film

Aus der Jury-Begründung des 33. Filmkunstfest Mecklenburg-Vorpommern zur Auszeichnung von TREASURE – FAMILIE IST EIN FREMDES LAND:
„Die Trauer und die Traumata der Figuren sind in jeder Sekunde des Films spürbar, eingeschrieben in ihre Körper, ihre Gesichter, und in die Vergeblichkeit ihrer Handlungen. Und gerade deswegen geht uns diese Geschichte so nah, denn sie tritt als das Spiegelbild einer Zeit in Erscheinung, in der der Wille zur Verständigung ein seltenes Gut geworden zu sein scheint. Der Film ist, obwohl 1991spielend, sehr gegenwärtig darin, wie er das Nichtverstehen, das Nicht-miteinander-kommunizieren thematisiert.“

Verbandsmitglieder der Fachgruppe Trauma und System erhielten die Gelegenheit, den Film "Treasure - Familie ist ein fremdes Land" bereits vor Kinostart zu sehen und - vor ihrem Hintergrund als systemische Expert*innen für Trauma - zu rezensieren.
Der nachfolgende Text wurde verfasst von:
Renate Jegodtka, Peter Luitjens, Milena Zundel und Susanne Altmeyer.

Filmrezension

Im September 2024 kommt der Film "Treasure - Familie ist ein fremdes Land" in die deutschen Kinos. Was macht diesen Film so besonders, dass Regisseurin Julia von Heinz im Juni diesen Jahres in München mit dem nationalen "Friedenspreis des Deutschen Films - Die Brücke" ausgezeichnet wurde? Eine Auszeichnung, mit der Filmkünstler und Filmkünstlerinnen gewürdigt werden, die sich mit ihren Werken für Toleranz, Humanität und Aufklärung einsetzen.

Worum also geht es?

Die 36jährige Journalistin Ruth ist Tochter zweier Auschwitz-Überlebender. 1991 reist sie von New York nach Polen, um dort die Orte kennenzulernen, an denen ihre Eltern lebten, bevor sie nach Kriegsende aus Polen auswanderten. Stationen der geplanten Reise sollen Warschau, Łódź, Krakau und das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau sein. Mit dieser einwöchigen Reise unternimmt Ruth den Versuch, der Geschichte ihrer Familie näherzukommen. Ihr Vater Edek begleitet sie, allerdings mit ganz anderer Motivation: Er fürchtet um die Sicherheit seiner Tochter und möchte ihr schützend zur Seite stehen.

Edek legt dabei gleich zu Beginn der Fahrt erhebliche Widerstände an den Tag. "Welcher Jude besucht Polen als Tourist?", äußert er. Es hat den Anschein, als wolle er verhindern, dass Ruth zu den Orten kommt, die Ziel der gemeinsamen Reise sind.

Die Handlung des deutsch-französischen Films, dessen Drehbuch sich an den Roman "Zu viele Männer" von Lily Brett von 1999 anlehnt, ist so aufgebaut, dass am Anfang das komplizierte Verhältnis der beiden ganz im Mittelpunkt steht - witzig überzeichnete Kebbeleien über Verkehrsmittel, Geld, Sauberkeit und die Schrullen der beiden. Wenn einerseits Edek lieber Mercedes-Taxi als Zug fahren will, er die Kleider trotz Flecken nicht wechselt und bei passender und unpassender Gelegenheit über die sexuellen Aktivitäten seiner Tochter redet und Ruth andererseits den amerikanischen Diät- und Sport-Gestus in zerfallende polnische Straßen transportiert, wirkt das schon ziemlich witzig - wenn einem das Lachen auch manchmal im Hals stecken bleibt. Der Brocken, der sich weigern will, den Hals der Zuschauenden hinunterzurutschen, weist auf etwas hin: Ruth hat gute Gründe dafür, sich mit dem Überlebensschicksal ihrer Familie auseinanderzusetzen, und Edek hat ebenso gute Gründe dafür, dieses auf keinen Fall zu wollen. Die beiden sprechen miteinander, ohne zur Sprache zu bringen, worum es ihnen geht. Sie scheinen geübt darin, dieses Muster beredter Sprachlosigkeit aufrecht zu halten. Wir kommen noch darauf zurück.

Zunächst zum weiteren Verlauf des Films: Die Dimension der Vergangenheit taucht auf. Die Zuschauer*innen erfahren, dass Edeks Familie eine große Wohnung und Fabriken in Łódź besaß, die 1940 von den Deutschen enteignet wurden, dass die gesamte Familie gezwungen wurde, im Ghetto zu leben und später nach Auschwitz deportiert wurde. Nur Edek und seine junge Frau überlebten die Zeit im Konzentrationslager. Man erfährt auch, dass Ruths Eltern ihrer Tochter weder vom Leben in Polen vor Auschwitz erzählt haben noch von ihren Erfahrungen in dem Vernichtungslager. Ruth kennt ihre Wurzeln nicht und hat ein großes Bedürfnis danach, diese kennenzulernen.

Unter welchen Gesichtspunkten schauen sich systemische Fachleute für Trauma diesen Film an?

Zeigt der Film, was das Erleben von Trauma für Auswirkungen hat?

Diese Frage ist deutlich mit „Ja“ zu beantworten. Edek hat den Schrecken der vielen Jahre im Ghetto und KZ auch 46 Jahre nach seiner Befreiung aus dem Vernichtungslager in den Knochen stecken. Und hier kommen wir auf den "Kloß im Hals" zurück: Gleich zu Beginn der Filmhandlung sind sich Ruth und Edek nicht einig, welches Transportmittel für ihre gemeinsame Reise geeignet ist. Sie hat eine Zugreise organisiert, er besteht auf ein Mercedes-Taxi, welches er auch gleich mit Fahrer für die gesamte Reise bucht. Die Auseinandersetzung zwischen Tochter und Vater ist nur vordergründig komisch. "Polnische Züge haben keine guten Toiletten" sagt Edek. Seine letzte Zugreise durch Polen führte nach Auschwitz. Züge erinnern ihn. Getriggerte Erinnerungen an existenzielle Bedrohung lösen Flashbacks und entsprechendes Verhalten – in diesem Fall Vermeidung –  aus.

Edek hat sich nach dem Überleben der Shoah entschieden, nach vorn zu blicken. Er ist nicht überzeugt, dass es sinnhaft sein könnte, sich an Vergangenes zu erinnern. Eine Bewältigungsstrategie, die wir bei vielen Menschen beobachten können, die durch psychosoziale und soziopolitische Gewalt traumatisiert wurden.

Auf ihrer gemeinsamen Reise ist es unvermeidbar, dass Edeks Bewältigungsstrategie infrage gestellt wird. Erinnerungen werden sinnlich wachgerufen:

Fühlen - Ruth hat den Mantel ihres Großvaters dem jetzigen Bewohner des enteigneten Hauses der Familie abgekauft. Edek berührt den Mantel seines Vaters. Die Erinnerung an den Verlust der Familienmitglieder überwältigt. Wir können es als Zuschauer*in deutlich mitfühlen.

In Bewegung - auf dem jüdischen Friedhof liegen Verwandte begraben. Anders als Ruth will Edek keine Steine auf die Grabsteine legen. "Meine Toten sind in Auschwitz", sagt er und entfernt sich umgehend.

Sehen - Die Stelle, an der die Züge in Auschwitz hielten. "Hier wurden deine Mutter und ich separiert, die ganze Familie, die Kinder …" Der Ort der Trennung Edeks von seiner Familie triggern die Erinnerung an den Verlust der Familie. Ruths Vater benennt, worüber bisher Sprachlosigkeit herrschte.

Riechen - In Auschwitz. "Er fehlt" … "Wer?" ... "Der Gestank" äußert Edek erstaunt. Das Am-Ort-Sein erinnert ihn an den Geruch des Todes.

Deutlich zeigt der Film die Trauer über den Verlust der Heimat, die Trauer über den Verlust der Lieben, die Wut über die Unmenschlichkeit des Erlittenen und die Entmenschlichung überhaupt.

Bildet der Film die transgenerationalen Folgen ab?

Auch diese Frage können wir mit einem klaren "Ja" beantworten.

"Treasure" erzählt die Geschichte der Reise überwiegend aus der Perspektive einer Tochter von Überlebenden der Shoah. Die typischen Auswirkungen der Verfolgung auf die zweite Generation sind vielfältig in Forschung und Dokumentarfilmen beschrieben. Wir kennen sie aus unserer Praxis als systemische Familientherapeut*innen aus der Begleitung von entsprechenden Familien. Zumeist geht es darum, die traumatisierenden Folgen der Verfolgung kognitiv zu erfassen. "Treasure" geht einen anderen Weg. Er macht die Dynamik zwischen Überlebenden der Shoah und ihren inzwischen erwachsenen Kindern sicht- und fühlbar. Dies gelingt auch wohl dadurch so authentisch, weil sowohl die Regisseurin Julia von Heinz, als auch die Hauptdarstellerin Lena Dunham und der Hauptdarsteller Stephen Fry in ihren eigenen Familien erlebt haben, wie das Trauma der Shoah die nachfolgenden Generationen prägen kann.

Der Film zeigt es deutlich: Durch zwischenmenschliche Gewalt erzeugte Traumatisierung erzeugt Sprachlosigkeit und verzerrt das Verstehen des Gesprochenen. In den betroffenen Familien breiten sich traumatische Sprachlosigkeit und Missverstehen aus, so auch zwischen Edek und Ruth.

"Was suchst du?", fragt der Vater. "Woher ich komme", antwortet die Tochter. Sie versucht zu verstehen, liest beständig Bücher über den Holocaust. Sie möchte be-"greifen",  und sei es indem sie einen Gegenstand berührt, den auch schon ihre Großeltern in den Händen gehalten haben. Ihr geht es darum, das "Zuwenig" aufzufüllen.

Ganz anders ist es für Edek. Er hat sich nach dem Überleben für das Weiterleben entschieden. Seine zentrale Bewältigungsstrategie: nach vorne sehen, der Blick zurück ist kaum zu ertragen. Ihm geht es darum das "Zuviel" zu vermeiden. Er möchte Distanz, um den Schmerz in Grenzen zu halten. So steht das Schweigen zwischen ihnen - eine typische Situation in Familien von Überlebenden soziopolitischer Gewalt. Die Eltern erzählen nichts und die Kinder stellen keine Fragen. Ruth und Edek zeigen die Dynamik: Immer wieder werden die Auswirkungen der elterlichen Erfahrungen auf Ruth deutlich, in ihrer Sprachlosigkeit und der scheinbaren Beziehungslosigkeit, bedrückenden nächtlichen Bildern, Ängsten, und Selbsthass bis hin zur Selbstverletzung.

Gibt der Film Hoffnung, dass Trauma überwunden werden kann?

Und dennoch: Ruth und Edek haben sich gemeinsam auf die Reise gemacht. Trotz der Sprachlosigkeit, die bisher zwischen ihnen stand, kann die unausgesprochene Liebe zwischen Vater und Tochter von den Zuschauer*innen erahnt werden. Die Handlung lebt auch von den Zwischentönen, ganz besonders in Bezug auf die Beziehung zwischen Vater und Tochter. Ein Beispiel: Edek hat Angst, sein früheres Zuhause aufzusuchen. Er weist auf das Massaker von Kielce hin (1946 wurden mehr als 40 Juden ermordet, als sie versuchten, nach Hause zurückzukehren). Er hat Angst und möchte seine Tochter beschützen, während sie sein früheres Wohnumfeld unbedingt sehen will. Ruth zuliebe überwindet er seine Angst und begleitet sie.

Sie ihrerseits nimmt lebenslang geübte Rücksicht, fragt und berichtet in kleinen Dosierungen. Besonders berührend ist ein Gespräch zwischen Vater und Tochter im Hotelrestaurant. Edek erfährt, was es für Ruth bedeutet hat, in ihrem Aufwachsen vom Schmerz ihrer Eltern umgeben zu sein.

Hoffnung: Beide lassen sich auf Begegnung ein. Eingefrorene Worte können auftauen, neue Worte können gefunden werden, es kann etwas zur Sprache kommen, was vorher nicht möglich war.

Am Ende schimmert ein hoffnungsvoller Ausblick auf - indem Edek  über seine Erfahrungen zu sprechen beginnt, entsteht ein Moment der Nähe zwischen den beiden Protagonist*innen. Es scheint, dass von nun an die Beziehung offener werden kann.

Würden wir traumatisierten Menschen empfehlen, diesen Film zu sehen?

Unsere Einschätzung: Vor Allem für Angehörige von Traumaüberlebenden erscheint uns der Film sehr empfehlenswert. So kann er ein tiefes Verständnis für die zwischenmenschlichen Veränderungen vermitteln, die sich nach tiefgreifend gewaltvollen Erfahrungen entwickeln können. Auch vor dem aktuellen Hintergrund vieler weltweiter Kriege und immenser Flüchtlingsströme von Menschen, die derartige Gewalterfahrungen mit sich (und auch zu uns) tragen, ist das Thema transgenerationaler Traumaweitergabe, Bindung und Zugehörigkeitsgefühl für jeden von uns wichtig. Hier bietet der Film einen guten Einstieg.

Unser Fazit

Der Film regt das Denken und Fühlen an. Er weist uns darauf hin, dass es Zeit braucht und einen Kontext, in dem das Unaussprechliche aussprechbar werden kann.

Für die Fachgruppe Trauma und System
Renate Jegodtka, Peter Luitjens, Milena Zundel und Susanne Altmeyer