Wissenschaftler unterstützen Familientherapie (2002)
(Kontext 1/2002) Fast 100 Professorinnen und Professoren an Universitäten in Deutschland, Österreich oder der Schweiz haben eine Stellungnahme zur ablehnenden Entscheidung des "Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie" unterzeichnet. Entgegen der Empfehlung des Beirats, die Systemische Therapie nicht als "wissenschaftliches Verfahren" im Sinne des Psychotherapeutengesetzes einzustufen, vertreten die Unterzeichner der Stellungnahme die Auffassung: "Die Systemische Therapie ist ein in Deutschland breit vertretenes, wissenschaftlich begründetes und in der klinischen Praxis verankertes professionelles Verfahren. Sie hat als innovativer Ansatz wesentliche Impulse für den Fortschritt der Psychotherapie gegeben."
Die Unterzeichner:
Auckenthaler, Anna – Berlin; Bahnson, Claus – Kiel; Balck, Friedrich – Dresden; Baumgärtel, Frank – Bremen; Bergmann, Günther – Graz; Bergold, Jarg – Berlin; Brähler, Elmar – Leipzig; Brunner, Ewald Johannes – Jena; Buchholz, Michael – Göttingen; Buchinger, Kurt – Kassel; Bullinger, Monika – Hamburg; Butollo, Willi – München; Charlton, Michael – Freiburg; Ciompi, Luc – Bern; Clement, Ulrich – Heidelberg; du Bois, Reinmar – Stuttgart; Duss-von Werdt, Josef – Fribourg; Eckert, Jochen – Hamburg; Eggert, Dieter – Hannover; Felder, Wilhelm – Bern; Fengler, Jörg – Köln; Franke, Alexa – Dortmund; Freyberger, Hellmuth – Hannover; Frohburg, Inge – Berlin; Fürstenau, Peter – Düsseldorf; Grau, Uwe – Kiel; Graumann, Carl-Friedrich – Heidelberg; Greif, Siegfried – Osnabrück; Hehl, Franz Josef – Düsseldorf; Helmich, Peter – Düsseldorf; Herzka, H.S. – Zürich; Herzog, Wolfgang – Heidelberg; Hildenbrand, Bruno – Jena; Hurrelmann, Klaus – Bielefeld; Huschke-Rhein, Ralf – Köln; Jantzen, Wolfgang – Bremen; Jopt, Uwe-Jörg – Bielefeld; Joraschky, Peter – Dresden; Katschnig, Hildegard – Wien; Kentler, Helmut – Hannover; Kieselbach, Thomas – Bremen; Klupe, Karl-J. – Köln; Klüwer, Carl – Köln; Krafeld, Franz Josef – Bremen; Kriz, Jürgen – Osnabrück; Kröger, Friedebert – Ratingen; Lempp, Reinhart – Stuttgart; Machemer, Peter – Osnabrück; Menschik-Brendele, Jutta – Klagenfurt; Merl, Harry – Wien; Millhofer, Petra – Bremen; Mrochen, Siegfried – Dortmund; Palmowski, Winfried – Erfurt; Petzold, Ernst – Aachen; Petzold, Hilarion, Amsterdam; Ploil, Eleonore – Bamberg; Reich, Kersten – Köln; Reiter, Ludwig – Wien; Retzer, Arnold – Heidelberg; Revenstorf, Dirk – Tübingen; Schiepek, Günter – Bamberg; Schleiffer, Roland – Köln; Schmidt, Gunter – Hamburg; Schmidt, Lothar – Trier; Schmidt-Denter, Ulrich – Köln; Schmidtchen, Stefan – Hamburg; Schneewind, Klaus – München; Scholz, Michael – Dresden; Schulz-von-Thun, Friedemann – Hamburg; Schwab, Reinhold – Hamburg; Schweitzer, Jochen, Heidelberg; Simon, Fritz B. – Witten/Herdecke; Stierlin, Helm – Heidelberg; Strauß, Bernhard – Jena; Streeck, Ulrich – Göttingen; Treml, Alfred K. – Hamburg; Tscheulin, Dieter – Würzburg; Tschuschke, Volker – Köln; Varga von Kibéd, Matthias – München; Verres, Rolf – Heidelberg; Voß, Reinhard – Koblenz; Walper, Sabine – München; Willi, Jürg – Zürich; Willutzki, Ulrike – Bochum; Wirsching, Michael – Freiburg; Zurhorst, Günter – Berlin
Die Stellungnahme im Wortlaut
Die Arbeitsgemeinschaft für Systemische Therapie (AGST) als Dachorganisation der Fachverbände für Systemische Therapie und Familientherapie in Deutschland stellte im Februar 1999 beim “Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie" (WB-P) den Antrag, die wissenschaftliche Anerkennung der Systemischen Therapie gemäß § 11 PsychThG zu prüfen. Dem Antrag wurde eine ausführliche, 600 Seiten umfassende Dokumentation beigefügt, die von Priv.-Doz. Dr. Günter Schiepek mit Unterstützung eines Experten-Beirates aus Psychologie und Medizin in Wissenschaft und Praxis erstellt wurde. [Diese Dokumentation wurde von der AGST im Herbst 1999 im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) als Buch herausgegeben (”Die Grundlagen der Systemischen Therapie”, Autor: G.Schiepek)]. Der WB-P stellte in seiner Sitzung vom 29.‑.30.9. 1999 anhand eines überaus knapp begründeten Gutachtens fest, daß die Systemische Therapie zur Zeit nicht als wissenschaftlich anerkannt eingestuft werden könne. Die Gründe waren in der Hauptsache:
· die konzeptionelle Verbindung von (anthropologischer und ätiologischer) Theorie und therapeutischer Praxis sei unzureichend,
· die Wirksamkeit der Systemischen Therapie könne auch für einen eingeschränkten Anwendungsbereich derzeit nicht als nachgewiesen gelten. Allenfalls gebe es vielversprechende Hinweise auf die Wirksamkeit familientherapeutischer Interventionen mit Kindern und Jugendlichen als Indexpatienten.
Dem Beschluß liegt ein Minderheitsvotum eines seiner Mitglieder, Prof. Dr. G.‑W. Speierer, bei, der dem Gutachten insofern grundsätzlich widerspricht, als die Vermittlungsschritte zwischen den theoretischen Voraussetzungen und der Begründung diagnostischen wie therapeutischen Handelns hinreichend klar erkennbar seien.
Demgegenüber ist bezüglich der Entwicklung und Anwendung der Systemischen Therapie vom Beginn in den 50er Jahren an festzustellen, daß der systemische Therapieansatz
· sich in wissenschaftlicher Hinsicht als Umsetzung des interdisziplinär ausgerichteten, systemwissenschaftlichen Paradigmas versteht und insofern eigenständig theoretisch begründet ist,
· aus den konkreten Anforderungen der Praxis in der Versorgung psychisch kranker Menschen entstanden ist,
· zahlreiche Befunde empirischer Forschung und Evaluation hervorgebracht hat, die nicht experimentell, sondern unter realen Praxisbedingungen erhoben wurden,
· weltweit eine breite wissenschaftliche Anerkennung genießt und sich damit - auch seit langer Zeit in Deutschland - als ein professioneller Ansatz etabliert hat, der seine klinische Nützlichkeit im Feld gezeigt hat und auf entsprechend große Resonanz unter Praktikern stößt,
· über ein theoretisches und methodisches Inventar verfügt, das auch von den meisten anderen Therapieansätzen für die eigene Weiterentwicklung genutzt wurde und wird.
Eines der zentralen Argumente des WB-P gegen die Anerkennung der Systemischen Therapie war die geringe Anzahl an empirischen Studien im Sinne der vom WB-P vorgegebenen, durchaus strittigen Kriterien. Dieser Argumentation sind grundsätzliche Überlegungen entgegenzusetzen:
· Die Befundlage zur Systemischen Therapie ist besser als in der Stellungnahme dargestellt.
Die Praxis der Systemischen Therapie entwickelte sich weitgehend im Rahmen der eigentlichen Krankenversorgung. Anders als bei Ansätzen, die stärker an den Universitäten verankert sind, beruht die Mehrzahl der vorliegenden Wirksamkeitsstudien auf Untersuchungen, die in realen Versorgungssituationen entstanden. Diese unter Versorgungsgesichtspunkten hochrelevante Forschung wurde im Gutachten des WB-R lapidar als methodisch unzureichend abgetan. Statt dessen wurden nur experimentelle und vergleichende Studien in die Betrachtung mit einbezogen. Darüber hinaus wurden die aus den USA stammenden positiven Befunde zur Systemischen Therapie aus kontrollierten Studien mit dem Argument einer fehlenden interkulturellen Vergleichbarkeit in einer nicht sachlich zu nennenden Weise entkräftet.
· Die „etablierten“ Richtungen werden systematisch bevorzugt.
Die psychotherapeutische Forschung an deutschen Universitäten zeigt sich eng auf die Schulzugehörigkeit der Lehrstuhlinhaber bezogen. Sowohl in der Psychotherapeutischen Medizin als auch in der Klinischen Psychologie wird fast ausschließlich über die bereits etablierten Ansätze geforscht, die dann nach Verabschiedung des PsychThG zudem ohne weitere Überprüfung von den Landesbehörden als “wissenschaftlich” übernommen wurden. Sowohl durch diese strukturellen Rahmenbedingungen als auch durch die Wahl der Kriterien bei der Überprüfung der Ansätze ergeben sich zwangsläufig "gutachterliche" Bevorzugungen der in der Vergangenheit etablierten Ansätze. Die Festlegung auf diese Art von Wirksamkeitsnachweis für die "Wissenschaftlichkeit" eines Ansatzes ist - wie auch die Fachdiskussionen des letzten Jahres um die Praxis des WB-P zeigen - keineswegs unumstritten. Diese strukturelle Benachteiligung der nicht im Wissenschaftlichen Beirat personell vertretenen Ansätze steht nicht im Einklang mit dem Geist des PsychThG. Sie verschafft den bereits etablierten Modellen einen unzulässigen, nicht mehr zeitgemäßen Wettbewerbsvorteil. Auf die anderenorts vielfach kritisierte ausschließliche Besetzung des WB-P mit Vertretern der Richtlinienverfahren soll an dieser Stelle bewußt nicht noch einmal eingegangen werden.
Als Unterzeichner/in dieser Erklärung - als Lehrende und Forscher an deutschen und internationalen Hochschulen tätig - schließe ich mich folgenden zusammenfassenden Aussagen zur gutachterlichen Praxis des WB-P an:
Die Wissenschaftlichkeit eines Psychotherapieverfahrens darf nicht allein aus zu eng begrenzten Wirksamkeitskriterien hergeleitet werden. Die wissenschaftliche Begutachtung eines Verfahrens sollte vielmehr eine Würdigung des gesamten Spektrums der theoretischen, praktischen, klinischen und empirischen Aktivitäten des betreffenden Ansatzes beinhalten.
Die Systemische Therapie ist ein in Deutschland breit vertretenes, wissenschaftlich begründetes und in der klinischen Praxis verankertes professionelles Verfahren. Sie hat als innovativer Ansatz wesentliche Impulse für den Fortschritt der Psychotherapie gegeben.
Die Systemische Therapie sollte nicht aus der Weiterentwicklung dieser Praxis ausgeschlossen werden.