Astrid Hochbahn im Interview

Was ist Systemische Organisationsentwicklung? Anlässlich der Patenschaft im New Work Glossar von Neue Narrative haben wir DGSF-Mitglieder zu ihrem Verständnis von systemischer Organisationsentwicklung befragt.

Was bedeutet für dich systemische Organisationsberatung / Organisationsentwicklung, Astrid Hochbahn?

Systemische Organisationsberatung bedeutet für mich, eine Organisation in ihrer Komplexität zu betrachten. Das bedeutet u.a. in den Blick zu nehmen:
* was wird von den handelnden Akteuren als Ziel beschrieben und was passiert wirklich
* was wird als Problem wahrgenommen und was als gewollte Lösungen beschrieben
* wie sind die Wechselwirkungen zwischen der organisationellen Verfasstheit – der Aufbau- und Ablauforganisation – und den realen Handlungen

Systemische Organisationsberatung ist für mich ein gemeinsamer Prozess mit den Menschen in der Organisation – und keine Expertenberatung von außen. Es gibt keine Lösungen von der Stange. Es gilt erstmal herauszufinden, wo steht die Organisation, wo will sie hin und an welchen Schrauben kann sie drehen, um ihren Zielen näherzukommen. Und dann gilt es gemeinsam zu schauen, ob die intendierten Effekte auch wirklich eintreten. Systeme reagieren nicht alle gleich. Wie ein System auf eine Intervention reagieren wird, ist nicht determiniert. Natürlich ist es hilfreich, Ideen über Organisationen zu haben – aber das sind Hypothesen und Ideen über mögliche Muster. Kein gültiges Expertenwissen, was immer greift.

Was ist für dich "der Kern" des Systemischen?

Der „Kern“ des Systemischen ist für mich ein konstruktivistischer Blick auf das, was ich vorfinde, wenn ich einer Organisation begegne: Es gilt, die Erzählungen, die Problembeschreibungen, die Strukturen usw. als Konstrukt zu begreifen, das prinzipiell veränderbar ist – und gemeinsam mit den Beteiligten nach Konstruktionen und Erzählungen zu suchen, die anschlussfähig und hilfreich sind.

Systemisch unterwegs sein, heißt für mich, dass ich wie eine Ethnologin fremdes Terrain erforsche, als Nicht-Expertin. Gerade mein fremder Blick ermöglicht es, Muster zu sehen, die den Menschen in der Organisation gar nicht bewusst sind, weil sie so vertraut sind – bzw. Zusammenhänge zu erschließen, die nicht sichtbar sind, wenn man mittendrin steckt. Die eigene(n) Kultur(en) in der Organisation sind das Vertraute – und gerade deshalb nicht bewusst. Sie werden erst deutlich durch die Konfrontation mit dem Fremden – und damit der Erkenntnis, dass die Dinge auch ganz anders gestaltet werden können.

Was ist systemische OE NICHT? Was unterscheidet das Systemische von anderen Beratungsansätzen?

Auf dem Coaching-/Management-Markt sind viele Akteure mit Ratschlägen und Konzepten unterwegs, die einfache, eindeutige Lösungen versprechen und damit verführerische Sicherheit versprechen. Sie suggerieren: Buch uns und wir sagen dir, was du tun musst, damit es läuft. Denn wir wissen, wie es geht. Suggeriert wird,  dass durch bestimmte Maßnahmen auf Mitarbeitende direkt Einfluss genommen werden kann. Leider funktionieren Menschen in Organisationen nicht wie ein physikalischer Regelkreis, wo sich der „Erfolg“, die Wirkung des eigenen Tuns berechenbar vorhersagen lässt. Systeme sind von außen nicht direkt instruierbar.

So herausfordernd das für Beratende – und Führungskräfte – sein mag. Einfache Lösungen von außen klingen zwar gut, die Wahrscheinlichkeit, dass sie funktionieren ist leider nicht hoch. Es geht darum, sich auf den vielleicht mühsamen, aber erfolgversprechenderen Weg zu begeben, mit den handelnden Personen gemeinsam Perspektiven zu erforschen und daraufhin zu untersuchen, inwieweit sie dem entsprechen, wohin sich die Beteiligten bewegen wollen.

Was ist der Nutzen systemischer OE?

Der Nutzen systemischer Organisationsentwicklung liegt m.E. darin, dass auch die Führungskräfte IN der Organisation gestärkt werden. Denn auch sie laufen ansonsten Gefahr, zu glauben, dass es einfache Lösungen geben könnte, die sie einfach nur noch nicht kennen. Systemische OE nimmt die Stakeholder einer Organisation ernst und begleitet sie dabei, eigene Lösungen anzustreben. Sie bleiben Expert*innen in eigener Sache.

Systemische Organisationsentwicklung nimmt die Akteure im Unternehmen als Organisator*innen der eigenen Wirklichkeit ernst – durch den gemeinsamen Reflektionsprozess entsteht mehr Wissen und Meta-Realität bei den Menschen im Unternehmen. Es werden Austausch- und Kommunikationsprozesse angestoßen, die über die Beratung hinaus wirksam sind.

Beratende begleiten eine Organisation nur eine gewisse Zeit. Nicht von ungefähr sind klassische Unternehmensberatungen, die durch eine Organisation rauschen, neue Konzepte auf dem Reißbrett entwerfen und dann wieder verschwinden von Mitarbeitenden gefürchtet. Die Organisation muss mit den Effekten weiterleben. Deshalb ist es wichtig, dass eine Organisation Gelegenheit hat, sich aus sich selbst heraus zu verändern und Mitarbeitende mitgenommen werden. Erst dann besteht die Chance auf nachhaltige Veränderung.

What are the patterns that connect? Worin besteht der Zusammenhang von systemischer OE, systemischer Beratung, Therapie und systemischer Sozialarbeit?

Alle Formate haben eine ähnliche Ausgangsbasis: eine ressourcenorientierte, konstruktivistische Haltung, die Klient*innen/Kund*innen als Expert*innen ernstnimmt, einen methodischen Werkzeug-Kasten – in Möglichkeitsräumen zu denken, Konstruktionen bildlich-visuell zu untersuchen und damit „begreifbar“ zu machen, lösungsorientiert zu denken und das „Wunder“ als Ausstieg aus einer Problemtrance zu nutzen – und generell Menschen sehr ernst zu nehmen und nicht nur als „Homo oeconomicus“ zu versachlichen, sondern als denkende UND fühlende Wesen zu begreifen. Ein solch nicht-mechanistischer Blick tut auch der systemischen OE gut, denn auch in Unternehmen haben wir es mit denkenden UND fühlenden Menschen zu tun, die eigene Ziele und Wünsche verfolgen.

Meiner Erfahrung nach schulen Beratungs- und therapeutische Weiterbildungen Kompetenzen, die auch für die systemische Organisationsentwicklung nützlich sind:
* sie richten den Fokus auf Zusammenhänge und Mustererkennung und lehren Hypothesen zu bilden – ohne sich gleichzeitig allzusehr in sie zu verlieben
* sie nehmen gelebte Kultur und Vergangenheit von Menschen ernst – und auch Organisationen haben eine eigene Kultur, die durch ihre Vergangenheit geprägt ist
* sie lehren Menschen als Teil von Systemen zu sehen und in komplexen Wechselwirkungen zu denken – ein Blick, der auch für Organisationen hilfreich ist

Wozu ist es sinnvoll, sich in der DGSF gemeinsam zu organisieren?

Der gemeinsame Austausch – über alle Formate hinweg – ist fruchtbar zur Theoriebildung und gegenseitigen Unterstützung. Außerdem wäre es wichtig, im Bereich arbeitsweltlicher Beratung viel deutlicher zu machen, was eine systemisch fundierte Perspektive leisten kann – und was der Unterschied zu anderen Coachingformaten ist. Das passiert m.E. leider noch viel zu wenig. Es gibt in der DGSF viele Menschen mit einer hohe Expertise im arbeitsweltlichen OE- und Coaching-Bereich – dies wird außen leider viel zu wenig wahrgenommen.

Astrid Hochbahn ist Soziologin M.A., Systemische Beraterin/Therapeutin/Coach/Supervisorin/Paarberaterin, Lehrende für Supervision/Coaching/Beratung/Therapie und Autorin mehrerer Fachbücher. Sie ist Sprecherin des Netzwerks systemischer Freiberufler*innen in der DGSF – www.astrid-hochbahn.de

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