Familientherapie und Systemische Praxis

EINLEITUNG

Der folgende Text stellt eine kurze Zusammenfassung grundlegender Fakten zum therapeutischen Ansatz dar, der unter dem Begriff Familientherapie und Systemische Praxis bekannt ist. Diese Zusammenfassung richtet sich an Personen, die sich aus beruflichen Gründen oder als Kunde/Patient für den Ansatz interessieren und bietet Entscheidungsträgern aus Politik und Gesundheitsversorgung sowie Vertretern öffentlicher und privater Krankenversicherungssysteme wichtige Anhaltspunkte dafür, was der Ansatz leistet. 

WAS IST FAMILIENTHERAPIE UND SYSTEMISCHE PRAXIS?

Familientherapie zielt auf die Lösung der Probleme ab, die Menschen im Kontext ihrer Beziehungen mit wichtigen Bezugspersonen ihres Lebens und ihrer sozialen Netzwerke erleben. Familientherapie ist ein anerkannter psychotherapeutischer Ansatz, der hauptsächlich auf das System Familie als soziale Einheit ausgerichtet ist und unterscheidet sich von anderen psychotherapeutischen Ansätzen wie der psychodynamischen oder kognitiven Verhaltenstherapie, die schwerpunktmäßig auf das Individuum abzielen. Familientherapie und Systemische Praxis sind heterogene Arbeitsfelder, in denen verschiedene Schulen und Modelle existieren, die auf einer Reihe von identischen grundlegenden Prinzipien und Annahmen beruhen. Zu den Zielen der Familientherapie gehören unter anderem die Stärkung der Funktionalität der Familie auf verschiedenen Ebenen, Verbesserung des gegenseitigen Verständnis innerhalb der Familie und die emotionale Unterstützung der Familienmitglieder untereinander, Entwicklung von Bewältigungs- und Problemlösungsstrategien in unterschiedlichen Lebensdilemmata und schwierigen Situationen usw.

Traditionelle Schwerpunkte der Familientherapie sind die Interaktion zwischen Familienmitgliedern, die Qualität der familiären Beziehungen sowie verschiedene Aspekte der Familienentwicklung und Familienfunktionalität etc. Allerdings basiert Familientherapie auf systemischen Annahmen und kontextuellen Perspektiven, die auf die Bedeutung weniger eng definierter Systeme verweisen, darunter Gemeinschaft, Gesellschaft und kultureller Hintergrund, dem die Familie entstammt. In den letzten Jahren sind Familientherapeuten dazu übergegangen, sich selbst als „Systemische Therapeuten“ zu bezeichnen, da sie den Auswirkungen, die weiter gefasste Systeme und der soziale Kontext auf das Leben der Menschen haben, zunehmend mehr Beachtung schenken.

Die systemische Perspektive, die als Grundlage für die Praxis der meisten Familientherapeuten dient, betrachtet die Probleme des Individuums immer in Bezug zu den verschiedenen Kontexten, in denen der Einzelne lebt: zum Beispiel als Partner in einer Paarbeziehung, als Familienmitglied, als Person mit besonderem kulturellem und/oder religiösem Hintergrund. Darüber hinaus spielen aber auch die sozioökonomischen Umstände und politischen Prozesse eine wichtige Rolle. In der systemischen Praxis wird dem Aspekt „Kontext“ eine übergeordnete Bedeutung für die psychologische Entwicklung und das emotionale Wohlbefinden des Einzelnen beigemessen.

Eine familientherapeutische Sitzung dauert in der Regel 60 bis 90 Minuten, die Häufigkeit der Sitzungen variiert von ein Mal pro Woche bis alle paar Wochen, je nach Problemlage und Bedürfnissen der Familienmitglieder, Status der Behandlung und anderen Faktoren. Entscheidungen über die Häufigkeit und Dauer der Sitzungen werden in Zusammenarbeit mit Patienten und anderen beteiligten Fachleuten getroffen. Obwohl Schätzungen zur Dauer der Therapie stark variieren wird davon ausgegangen, dass familientherapeutische Behandlungen durchschnittlich sechs bis 20 Sitzungen erfordern.

Bei familientherapeutischen Sitzungen arbeiten Familientherapeuten meist mit mehr als nur einem Familienmitglied zusammen, es werden jedoch bei Bedarf auch Einzelsitzungen durchgeführt oder Eltern ohne ihre Kinder zu Sitzungen eingeladen. Bei einigen Modellen der Familientherapie arbeitet der Therapeut mit einzelnen oder einem Team von Co-Therapeuten zusammen. In anderen Situationen wird der systemische Therapeut innerhalb des beruflichen Umfelds und/oder dem sozialen Umfeld von Familien tätig, anstatt sich ausschließlich auf die Kernfamilie zu beschränken. Dauer und Form der Familientherapie werden in Zusammenarbeit und in beiderseitigem Einvernehmen zwischen Therapeut und Familie definiert.

WER PROFITIERT VON FAMILIENTHERAPIE UND/ODER SYSTEMISCHER PRAXIS?

Familien können für ihre Mitglieder ein Quell großer Freude und Unterstützung sein, aber auch zu Leid, Missverständnissen und Schmerzen führen. Familientherapie und Systemische Praxis spielen deshalb immer dann eine Rolle, wenn es darum geht, die Fähigkeit der Familienmitglieder zur gegenseitigen Unterstützung innerhalb der Familie zu verbessern. Für die Bewältigung von Veränderungen und Übergangsphasen innerhalb von familiären Zusammenhängen oder in schwierigen Lebenssituationen, bei schwerer Krankheit oder Tod eines Familienangehörigen, kann das Erlernen von Strategien zum gezielten und unterstützenden Einsatz von Ressourcen für die Familienmitglieder von grundlegender Bedeutung sein.

Im Allgemeinen können alle Situationen oder Probleme, die sich auf die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander und die Funktionalität der Familie und ihre unterstützende Funktion negativ auswirken, mit Hilfe von systemischer Familientherapie verbessert werden. Gleichermaßen können Einzelpersonen mit Problemen, die negative Auswirkungen auf die Beziehungen zu anderen Familienmitgliedern oder weiter definierte Systeme haben, vom systemischen Ansatz profitieren. Auch die Einbindung von Personen in die Therapie, die der Familie oder dem sozialen Netzwerk der Einzelperson angehören, kann dazu beitragen, eine Pathologisierung des Einzelnen zu vermeiden und Probleme effektiver zu bewältigen.

Familientherapie kann sowohl in Bezug auf Krisensituationen, als auch langfristig Problemlösungen bieten. Es dient außerdem der Prävention von Verhaltensschwierigkeiten und zur Vorbeugung von Delinquenz und psychischen Zusammenbrüchen. Nachfolgend sind einige Themenbereiche und Situationen aufgeführt, in denen Familien von einer Familientherapie profitieren können.

  • Gesundheitliche Probleme, insbesondere chronische physische Krankheiten
  • Psychosomatische Probleme
  • Psychische Gesundheit von Kindern und Heranwachsenden
  • Psychische Gesundheit Erwachsener
  • Psychosexuelle Schwierigkeiten
  • Alkoholprobleme und andere Fälle von Suchtmittelmissbrauch
  • Eheprobleme einschließlich Trennung und Scheidung
  • Pflegefamilien, Adoption und verwandte Themen
  • Familiäre Lebenszyklen und Lebensberatung in Übergangsphasen
  • Förderung der Erziehungskompetenzen von Eltern und Familienfunktionalität
  • Schulische Probleme
  • Berufsbedingte Schwierigkeiten
  • Traumatische Erfahrungen, Verlust und Trauer
  • Zerrüttung von Familien aufgrund von sozialen, politischen oder religiösen Konflikten

Es ist darauf hinzuweisen, dass besonders sozial und ökonomisch benachteiligte Familien große Chancen haben, von Familientherapien und Systemischer Praxis zu profitieren. Es ist daher erstrebenswert, dass diese Ansätze als öffentliche Dienstleistungen verfügbar sind, so wie dies in einigen europäischen Ländern, darunter Finnland und Großbritannien, bereits heute der Fall ist.

AKTUELLE EVIDENZBASIS

Aus den voran stehenden Zeilen geht hervor, dass Familientherapie auf der Grundlage der systemischen Perspektive für Menschen mit sehr unterschiedlichen Problemen und Schwierigkeiten wirksame Hilfestellung leisten kann. Beide Ansätze können aber auch als präventive Maßnahme für eine Vielzahl von Problemen erachtet werden, die zu einem späteren Zeitpunkt innerhalb der Familie oder in Beziehung mit anderen Personen auftreten können. Dennoch muss die Frage gestellt werden, ob es gemäß den derzeitigen wissenschaftlichen Standards für diese Aussagen ausreichend wissenschaftliche Belege gibt?

Seit den 1990er Jahren gibt es einen kontinuierlichen Anstieg an Studien, die eindeutige wissenschaftliche Nachweise für den Erfolg von Familientherapien bei verschiedenen Indikationen liefern. Gegenwärtig ist durch Forschungsarbeiten auf der Grundlage unterschiedlicher methodologischer Ansätze und Inhalte sowohl die Wirksamkeit, als auch die Leistungsfähigkeit familiärer Interventionen ausreichend belegt. In zahlreichen wissenschaftlichen Abhandlungen wird zudem darauf hingewiesen, dass Familientherapien nicht kostenintensiver sind als andere Therapieformen, sondern zum Teil sogar erheblich kostengünstiger als Behandlungen ohne Familientherapie. Die nachgewiesene Kosteneffizienz von Familientherapien ist ein besonders interessanter Aspekt für Vertreter von öffentlichen Dienstleistungsorganisationen und Institutionen aus dem Gesundheitswesen, die für die Entwicklung von Behandlungsmethoden verantwortlich zeichnen. Durch die Forschungsergebnisse konnte nachgewiesen werden, dass die Einbindung einer Familientherapie in die Behandlung wesentlich zur Kostensenkung der bereitgestellten Gesundheitsfürsorge und zu verminderten Kosten für pharmakologische Behandlungen beiträgt. Zahlreiche Studien weisen den Erfolg von Familientherapien, systemischen Interventionen und Familienarbeit im Hinblick auf Essstörungen, Verhaltensprobleme, Depressionen, Süchte, Schizophrenie und andere Probleme bei Kindern und Heranwachsendenden nach.

Der Grad der Wirksamkeit und Leistungsfähigkeit von Familientherapien und familienorientierten Interventionen variiert zwar je nach Aufbau und Inhalt der Forschungsarbeit, dennoch hat sich die Familientherapie als evidenzbasierter psychotherapeutischer Ansatz etabliert. Einige kürzlich erschienene Artikel und Abhandlungen, die wissenschaftliche Belege zu diesem Thema liefern, sind am Ende dieses Textes zusammen mit weiteren Referenzen aufgelistet. Angesichts des derzeitigen Standes der Wissenschaft auf dem Bereich der Familientherapie überrascht es nicht, dass familientherapeutische Methoden in einigen europäischen Ländern als evidenzbasierter Ansatz durch wissenschaftliche Körperschaften anerkannt wurden, so zum Beispiel in Großbritannien, Deutschland und Finnland etc.

SCHLUSSWORT 

Familientherapie auf der Grundlage der systemischen Perspektive ist ein eigenständiger psychotherapeutischer Ansatz, der schwerpunktmäßig auf die familiären und weiter gefassten Beziehungen des Einzelnen abzielt. Es ist ein gut erforschter Ansatz, der die Wirksamkeit und Leistungsfähigkeit für eine Vielzahl von spezifischen Konditionen ausreichend wissenschaftlich belegt. Nachstehend sind weitere Gründe für die Förderung und Ausweitung von Familientherapien als Behandlungsmethode aufgeführt.

  • Familienzentrierte Arbeit ist eine wichtige Maßnahme für die Prävention verschiedener Probleme von Einzelpersonen, die gesamtgesellschaftliche Auswirkungen haben können.
  • Familientherapie ist ein entscheidender Ansatz im Hinblick auf Behandlung und Prävention für eine Vielzahl von emotionalen Problemen und Verhaltensschwierigkeiten bei Kindern und Heranwachsenden.

  • Familientherapie kann einen Beitrag dazu leisten, dass Familienmitglieder ihre eigenen Ressourcen nutzen und sich gegenseitig in belastenden Situationen, auch bei psychischen und physischen Krankheiten, Hilfestellung leisten.

  • Sachgemäß ausgebildete Familientherapeuten und systemische Berater können ihre Fähigkeiten in verschiedenen Umgebungen nutzen, darunter Organisationen und Institutionen, bei denen die Förderung von Teamwork und Problemlösung im Vordergrund steht. Sie können ihre Kenntnisse aber auch im Bereich Konfliktlösung und Verhandlungs- und Gesprächsführung im Kontext sozialer und politischer Krisen einsetzen.

  • Die systemische Perspektive kann im weitesten Sinne dazu beitragen, die Grundpfeiler einer gesunden Gesellschaft, darunter Solidarität, Toleranz, Vertrauen und Zusammenarbeit, zu fördern und stärken.

REFERENZEN

  •  

    Carr, A.: „The effectiveness of family therapy and systemic intervention for child-focused problems“ (im Druck, erscheint voraus. in Journal of Family Therapy 2009)

  • Carr. A.: „The effectiveness of family therapy and systemic intervention for adult-focused problems“ (im Druck, erscheint voraus. in Journal of Family Therapy 2009)

  • Asen, E.: „Outcome research in family therapy. Advances in Psychiatric Treatment“, 2002, 8: 230–238

  • Sexton, T.L., Alexander, J.L., Mease, A.L.: „Levels of Evidence for the Models and Mechanisms of Therapeutic Change in Family and Couple Therapy“ in Lambert, M. Garfield und Bergin Handbook of Psychotherapy and Behavioral Change, Wiley&Sons, 2004, ISBN: 978-0-471-37755-9

  • Russel Crane D.: „Effectiveness Research on the Cost of Family Therapy“, Psychotherapeutenjournal, 2007, 23: 20-24

  • Russel Crane, D.: „The cost-effectiveness of family therapy: a summary and progress report“ Journal of Family Therapy, 2008, 30:399-410

  • Russell Crane, D. „Individual and Family Therapy in Managed Care: Comparing the Costs of Treatments by the Mental Health Professions“ Journal of Marital and Family Therapy. (im Druck)

  • Stratton, P.: „Report on the evidence base of systemic family therapy“, AFT 2005, www.aft.org.uk

  • Parker, J.: „Current Practice, Future Responsibilities“, AFT 2007, www.aft.org.uk

  • V. Sydow, K., Beher, S., Retzlaff, R. & Schweitzer, J, „Die Wirksamkeit der Systemischen Therapie/ Familientherapie“, Hogrefe, 2007; ISBN-10: 3-8017-2037-3; ISBN-13: 978-3-8017-2037-7.

  • www.europeanfamilytherapy.eu

  • http://en.wikipedia.org/wiki/Family_therapy

  • http://ww.mayoclinic.com/health/family-therapy/HQ00662

Hinweis

Der vorliegende Text ist das Ergebnis der Zusammenarbeit einer Arbeitsgruppe von Familientherapeuten – Mitglieder der Kammer für nationale Organisationen (NFTO) des Europäischen Verbandes für Systemische Therapie und Familientherapie (EFTA), dem Berufsverband für Familientherapeuten in Europa.

(2010)