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Die frühe systemische Theorie sozialer Systeme stellte den Begriff der Homöostase, also das Systemgleichgewicht stark in den Vordergrund. Diese Konzepte gehen davon aus, dass es – in der Übertragung auf die Familie – so etwas wie einen idealen Gleichgewichtszustand geben könnte, der dann für diese Familie funktional ist. Dem entgegen stellte man die dysfunktionalen familiären Muster. Als dysfunktionaI wurde angesehen, wenn Regeln in der Familie zu rigide sind, wenn ein Partnerkonflikt nicht ausgetragen wird etc. Ist in der Familie der Gleichgewichtszustand bedroht, haben das Symptom oder der Symptomträger die Funktion, den Status quo zu stabilisieren. Therapeuten können Regeln und Muster des Familiensystems beschreiben, ihre Interventionen können das Familiensystem beeinflussen und verändern. Diese Phase der Theoriebildung über beobachtete Systeme umfasst die Zeit der 50er bis späten 70er Jahre. Die Perspektive wird auch als "Kybernetik erster Ordnung" beschrieben.
Eine "Kybernetik zweiter Ordnung" gibt es also auch. Sie befasst sich mit der Entwicklung von Theorien über Beobachter, die ein System beobachten. Die Kybernetik 2. Ordnung berücksichtigt also das Subjekt des Beobachters und löst gleichzeitig den Begriff der Homöostase ab. Im Mittelpunkt des Interesses steht nun nicht mehr das Systemgleichgewicht, sondern die Frage danach, wie Systeme sich verändern.
Die theoretische und praktische Konsequenz dieses Übergangs ist kaum zu überschätzen: Die Einführung des Subjekts des Beobachters bedeutet doch in letzter Konsequenz, dass der Beobachter das Familiensystem erschafft oder konstruiert. Ohne seine Sicht gäbe es dieses System nicht. Die Aufmerksamkeitsverschiebung in Richtung derjenigen Prozesse, die Systemveränderung und Systementwicklung bewirken, erklärt den großen Einfluss, den nun die Theorie der Selbstorganisation (Synergetik), die Chaostheorie, die Theorie der Autopoiese und die Entdeckung dissipativer Strukturen für die Diskussion der systemischen Theorie und Praxis hatten.
Zu diesen Begriffen einige Anmerkungen, die sie veranschaulichen sollen: Als dissipative Strukturen bezeichnete der Chemiker Prigogine folgende Dynamik komplexer chemischer Systeme: Entfernen sich Systemzustände weit vom Gleichgewicht und überschreiten sie dabei einen kritischen Wert, bilden sie eine neue, nicht vorhersagbare Ordnung aus und können nicht in den früheren Zustand zurückkehren. Durch äußere Einwirkung ist es möglich, ein System zu destabilisieren (bekannt ist hier der Flügelschlag des Schmetterlings, der einen Hurrikan auslösen kann), die Neuordnung des Systemgleichgewichts bleibt aber nicht vorhersagbar. Anregung ist möglich, gerichtete Beeinflussung nicht.
Synergetik wurde von dem Physiker Haken "erfunden" und beschreibt auf physikalischer Ebene einen ähnlichen Prozess: Synergetik befasst sich mit der Frage, wie Ordnungen entstehen und ob es allgemein gültige Prinzipien der Selbstorganisation gibt. Haken entdeckte das in der Natur weit verbreitetes Prinzip, dass in offenen Systemen spontan geordnete Strukturen entstehen. Am Beispiel des Laserlichtes zeigte er, wie durch Energiezufuhr fluktuierende Atome selbstorganisiert geordnete Muster bilden, so als würden sie sich entscheiden, miteinander zu kooperieren.
Die Biologen Maturana und Varela entwickelten in bezug auf biologische Systeme das Konzept der Autopoiese. Autopoietische Systeme sind strukturell determiniert, d. h. sie können sich nur innerhalb gewisser Grenzen verändern. Sie haben keinen anderen Zweck als ihre eigene Struktur aufrecht zu erhalten, und sie sind operationell geschlossen, d.h. sie können wohl innerhalb ihrer strukturellen Determiniertheit Umweltinformationen aufnehmen, sie sind aber nicht durch diese beeinflussbar (instruierbar). Es können zwar neue Eigenzustände angestoßen werden (durch Verstörung, Pertubation), diese Eigenzustände sind aber durch die strukturelle Determiniertheit des autopoietischen Systems bestimmt. Das Konzept betont also die Autonomie lebender Systeme. Als strukturelle Kopplung wird bezeichnet, wenn Systeme in der Weise miteinander in Interaktion treten, dass sie sich in ihrer strukturellen Determiniertheit ergänzen.
Die Autonomie einerseits und das Selbstorganisationspotential des Systems andererseits machen die Grenzen der therapeutischen Einflussnahme deutlich. Betont wird statt dessen das Potential und die Ressourcen, die dem System zugehörig sind. Die Macht der TherapeutInnen ist relativiert, ihre Möglichkeit ist darauf begrenzt, das System zu verstören und die Eigenschwingungen des Systems anzuregen. Heinz von Foerster hat für die Ausrichtung systemischen HandeIns und Denkens paradigmatisch formuliert: "Handle stets so, dass du die Anzahl der Möglichkeiten vergrößerst!"
Die Berücksichtigung des Subjektes des Systembeobachters oder anders gesagt die Tatsache, dass der Beobachter Teil des Systems wird, indem er es entwirft, relativiert Bewertungen wie richtig oder falsch und gut oder schlecht. Als alternatives Kriterium bietet sich an, danach zu fragen, wie angemessen und sinnvoll, wie ethisch vertretbar eine Sicht der Wirklichkeit und ein Handeln aus der Sicht der Person oder des Systems ist.
Für soziale Systeme bieten sich diese Kriterien auch unter dem Aspekt an, dass Grenzen für die Identitätsbildung von Systemen grundlegend sind. Im Gegensatz zu dinglichen Systemen entwickeln soziale Systeme ihre Grenzen durch die Bestimmung ihres Sinnes und Zieles und durch die Vereinbarungen über die Regeln und Muster, die für die Zielerreichung und Sinngebung funktional erscheinen.
(Friedebert Kröger / DGSF)
Familientherapie und Systemische Praxis
Grundlegende Fakten zum therapeutischen Ansatz für Entscheidungsträger aus Politik und Gesundheitsversorgung sowie für Kunden/Patienten, zusammengestellt von einer Arbeitsgruppe des europäischen Familientherapieverbandes EFTA
Stellungnahme der DGSF zum Thema Familienaufstellungen (2/2023)