
Themenwoche Armut
Am 27.1.25 veröffentlichte die Nationale Armutskonferenz (nak) den neuesten Schattenbericht zur Armutssituation in Deutschland. Erstmals waren mehrere DGSF-Mitglieder, vor allem aus der Fachgruppe Armut und System, an der Erstellung beteiligt. Die DGSF- Fachgruppen Armut und System, Systemisch {pflegen – betreuen – begleiten} beraten, Alter(n) im System, Systemische Kinder- und Jugendhilfe und das Netzwerk Macht- und Diskriminierungskritik haben im Rahmen einer DGSF-Themenwoche Beiträge zum Thema Armut erarbeitet, mit dem Ziel, Menschen für armutssensibles Handeln zu sensibilisieren.
Fachliche Koordination der Themenwoche: Birgit Averbeck, DGSF-Fachreferentin Jugendhilfe/ -politik und Soziale Arbeit
Armutssensible Beratung - Herausforderungen, Hypothesen und Haltung
Die Veröffentlichung des Schattenberichtes der nationalen Armutskonferenz (nak), an dessen Erstellung sich die DGSF beteiligt hat, regt u.a. die Frage an, wie eine armutssensible systemische Beratung gelingen kann. Dieser Text versucht eine rudimentäre Antwort und ist stark inspiriert durch den Beitrag „Soziale Unterschiede, die einen Unterschied machen – zur Bedeutung von Klassismus in systemischen Beratungskontexten“ von A. Gemeinhardt und M. Gnerlich, erschienen in „Systeme 2/21“ (S. 163-176).

Wenn ein Beratungsprozess mit armutsbetroffenen Menschen startet, ist er unweigerlich von herkunftsbedingten Aspekten – sowohl auf Seiten der Beratungssuchenden als auch auf Seiten von Beratungsprofessionellen - geprägt. Wir können davon ausgehen, dass schon scheinbar unbedeutende Handlungen, z.B. wie Menschen gehen, wie sie stehen oder sich hinsetzen, vorbewusste Kategorisierungsschemata aktivieren. Merkmale wie Kleidung und Sprache können die Prägung verstärken.
Diese Erkenntnis, dass die (Klassen-) Herkunft / Zugehörigkeit einen wesentlichen Einfluss auf die Wahrnehmung der eingebrachten Problematik, auf die Ratsuchenden und damit auch auf die Hypothesenbildung hat, ist von zentraler Bedeutung. Denn die eigenen (Klassen-) Erfahrungen und damit einhergehenden Glaubenssätze wirken auf die Einstellungen zu Klient*innen und auf die Gestaltung des Arbeitsprozesses. „Welche Eigenschaften meine Klienten haben, hängt (natürlich auch, aber) nicht nur von ihnen ab, sondern vor allem von mir als Berater. Ob meine Klienten „motiviert“ oder „unmotiviert“ sind, ob sie „zuverlässig“ oder „unzuverlässig“ sind, ob sie „klar“ oder „unklar“ sind …, ist stark eine Frage der Beobachterperspektive.“ (Barthelmess, S. 71) Für Berater*innen kann es daher in der Selbstreflexion hilfreich sein, sich zu fragen, wie es dazu gekommen ist, eine Hypothese so zu formulieren und nicht anders.
Es ist denkbar, „dass wir in der systemischen Arbeit Gefahr laufen, Kontextbedingungen als gegeben anzunehmen und im Beratungsprozess zu oft suggerieren, Menschen könnten auch unter sehr restriktiven gesellschaftlichen Lebensumständen das beste Ergebnis erzielen, wenn sie nur klug genug konstruieren und clever genug interagieren.“ (Kuhnert u. Strecker, S. 368) Armut „vererbt“ sich, z. B. durch schlechte Lebensbedingungen von Geburt an; sie wird durch ungleiche Chancen und Lebensmöglichkeiten aufrechterhalten. Um aus Armut zu kommen, braucht es oftmals Glück und Zufall (vgl. Brodesser, S. 89). Diese Beobachtung mag vielleicht dem systemischen Denken einiger entgegenstehen. Die Lebensrealität Armutsbetroffener in der Hypothesenbildung nicht zu berücksichtigen, steht allerdings einer professionellen Beratungsarbeit entgegen und dürfte einen erfolgreichen Beratungsprozess unwahrscheinlicher machen. Aufgabe der Berater*innen kann es sein, sich über die Ausprägungen von Armut zu informieren und die Wirkmechanismen zu verstehen.
Wenn eine Beratung systemisch auf Augenhöhe mit Beratungssuchenden erfolgen soll, sollten Berater*innen ihre eigene - oftmals privilegierte - Situation reflektieren und müssen ggf. erkennen, dass sie als Ausdruck oder Teil vorherrschender ungleicher Sozialstrukturen in Erscheinung treten. Dies erfordert zudem eine Auseinandersetzung mit Paradoxien, die sich in Beratungsprozessen mit Armutsbetroffenen niederschlagen können, beispielsweise in Form von Diskrepanzen zwischen Aufträgen seitens (staatlicher) Institutionen und Aufträgen der Beratenen.
Ein Beitrag von Lars Wiebke, Fachgruppe Armut und System
Quellen:
Barthelmess M., (2016). Die Systemische Haltung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Brodesser D., (2023). Armut. Wien: Kremayr & Scheriau.
Gemeinhardt A.und Gnerlich M. (2021). Soziale Unterschiede, die einen Unterschied machen – zur Bedeutung von Klassismus in sytemischen Beratungskontexten, Systeme 2/21. Wien: ÖAS Eigenverlag.
Kuhnert J. und Strecker J. (2018). Politik in der systemischen Lehre?; Kontext 4 / 2018. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Armut und Pflege - eine unsichtbare Last für Betroffene und Angehörige

Als Mensch mit Pflegebedarf bin ich von anderen abhängig. Das bedeutet, mein Leben kann nur gemeinsam mit dem Leben meiner Unterstützerinnen und Pfleger gedacht werden. Meine Familie mit Pflegebedarf hat ein deutlich höheres Armutsrisiko gegenüber Familien, in denen Pflege keine Rolle spielt.
Pflegegeld ist häufig die einzige Möglichkeit die finanzielle Basis zu erhalten. Erwerbstätigkeit und Pflege funktioniert in aller Regel nicht. Je mehr Pflegegeld ich für den Lebensunterhalt brauche, umso weniger kann ich für Pflegedienste ausgeben.
Als Heimbewohner erlebe ich persönlich Armut nicht belastend, da ich rundum versorgt werde. Arm erleben sich meine Angehörigen, da das Erbe fürs Heim benötigt wird. Das belastet mich, denn ich möchte keine Last sein.
Als systemische Expertinnen und Experten der ‚Fachgruppe systemisch {pflegen – betreuen – begleiten} beraten‘ erwarten wir, dass mehr Angebote entstehen, die Menschen mit Pflegebedarf und ihre An- und Zugehörigen gemeinsam unterstützen, also Angebote für ‚Systeme mit Pflegebedarf‘. Dies ist eine Forderung an die fachliche Pflege als auch an die Politik und Kostenträger zur Finanzierung solcher Angebote.
Ein Beitrag von Johannes Mertens/Jürgen Voß, Fachgruppe Pflege: Systemisch {pflegen – betreuen – begleiten} beraten
Große Freiheit Alter!! - ?? - Altersarmut und ihre Folgen

Stellen Sie sich vor, Sie beziehen eine Durchschnittsrente von 1054 Euro pro Monat. Wie sieht ihre Freiheit aus?
· Sie erhalten bei Bedarf ein Hörgerät. Die Zusatzkosten für ein Gerät, das es Ihnen erleichtert, in Gruppen an Gesprächen teilzunehmen, Konzerte zu genießen, können sie aber nicht aufbringen.
· Die Zahnarztkosten werden von ihrer Versicherung übernommen; die Zusatzkosten für eine aufwendigere, optisch bessere Versorgung übersteigen ihre Möglichkeiten.
· Sie möchten auch im Alter für ihre Kinder und Enkel da sein, vielleicht etwas mit ihnen unternehmen und sie finanziell unterstützen. Das gibt Ihr Budget nicht mehr her.
· Sie haben Interesse, sich ehrenamtlich zu engagieren. Erforderliche Auslagen werden ersetzt – im Nachhinein. Wie sollen Sie die Kosten für Fahrten zu ihrem Einsatzort, ein bisschen bessere Kleidung, um dort nicht aufzufallen, den Kuchen, den alle von Zeit zu Zeit mitbringen, erst einmal stemmen?
· Es gibt in Ihrem Umfeld Möglichkeiten sich einzubringen, teilzunehmen – und immer häufiger schämen Sie sich und trauen sich nicht hinzugehen, denn: · Armut beschämt
· Es gibt in Ihrem Umfeld Möglichkeiten sich einzubringen, teilzunehmen – und immer häufiger schämen Sie sich und trauen sich nicht hinzugehen, denn:
· Armut beschämt
· Armut macht einsam
Armut geht uns alle an!
Ein Beitrag der Fachgruppe Alter(n) im System
Rassismus und Armut - systemische Benachteiligung verstehen und überwinden

Rassismus und Armut sind eng miteinander verwoben. Durch rassistische Strukturen werden in unserer Gesellschaft nicht-weiße Menschen in essentiellen Lebensbereichen diskriminiert. Diese Benachteiligungen erhöhen das Risiko, in Armut zu leben, sozialer Aufstieg wird erschwert. Rassistische Stereotype sind ein wirkmächtiges Werkzeug, das Ungerechtigkeiten aufrechterhält. Darin werden z. B. auch Bilder von Menschen eines „geringen“ ökonomischen und sozialen Status gesellschaftlich konstruiert und geteilt. Das beeinflusst, wie Menschen wahrgenommen, behandelt und welche Chancen ihnen zugestanden oder verwehrt werden. Systemisch bedingen sich derlei Reproduktionen auf ein Neues immer wieder selbst.
Bildung gilt allgemein als Schlüssel zu besseren Lebensbedingungen und als Mittel, um das Armutsrisiko zu senken. Jedoch ist auch das Bildungssystem systemisch von Benachteiligungen durchzogen. Noch mehr: Einer Studie des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa) aus 2024 zufolge schützt hohe Bildung und Erwerbstätigkeit rassistisch markierte Menschen weitaus weniger vor Armutsgefährdung als nicht rassistisch markierte – das Ganze um etwa den Faktor vier (https://www.rassismusmonitor.de/publikationen/rassismus-und-armutsgefaehrdung/ ). Das heißt: Nicht alle Menschen profitieren im selben Maße von Bildung und das Narrativ der Leistungsgerechtigkeit ist auch hier mehr als brüchig.
„Um das erhöhte Armutsrisiko rassistisch markierter Menschen zu verringern, müssen rassistische Strukturen und Diskriminierungen in verschiedenen Bereichen wie dem Bildungssystem, dem Arbeitsmarkt, dem Gesundheitssystem und dem Wohnungsmarkt umfassend abgebaut werden. Es geht nicht nur darum, gleiche Bildungschancen und berufliche Qualifikationen für alle zu gewährleisten, sondern auch darum, ausländische Bildungs- und Berufsabschlüsse anzuerkennen. Bildung und Arbeit muss sich für alle gleichermaßen lohnen.“ (Prof. Dr. Zerrin Salikutluk, Leiterin NaDiRa)
Welche liebgewonnen (systemischen) Herangehensweisen tragen in unseren Arbeitsfeldern zur Reproduktion rassistischer Benachteiligungen bei?
Welche konkreten Ressourcen können wir nutzen, um uns die wechselseitigen Mechanismen von Rassismus und Armutsrisiko in unserer Praxis bewusst zu machen und um ihnen entgegenzuwirken?
Ein Beitrag von Ilja Gold und Jessie Mmari, Netzwerk Macht- und Diskriminierungskritik
Familienzentren NRW als Frühwarnsysteme der Gesellschaft

In NRW sind viele Kitas auch ein Familienzentrum. Sie haben die Aufgabe, Angebote für alle Familien in ihrem Stadtteil zu schaffen, damit diese in besonderen Lebenssituationen unkomplizierte Unterstützung finden. Dabei können die Familienzentren besondere Schwerpunkte auswählen, z. B. Angebote für Menschen mit Migrationshintergrund oder die darauf abgestimmt sind, dass sich die Kita in einem ländlichen Bereich befindet.
Ein Schwerpunkt heißt: „Familienbegleitung in schwierigen Lebenssituationen“. Diese Familienzentren bieten Familien Unterstützung zu verschiedenen Themen an und sollen armutssensibel handeln. Ursprünglich haben diesen Schwerpunkt überwiegend Familienzentren in den sogenannten sozialen Brennpunkten gewählt, also in den Sozialräumen, von denen wir wissen, dass Menschen in einem hohen Armutsrisiko leben.
Neu ist, dass dieser Schwerpunkt auch von Familienzentren gewählt wird, die bisher ihre Angebote auf berufstätige Eltern ausgerichtet haben. Das ist ein deutliches Warnzeichen dafür, dass Arbeit zu haben keine finanzielle Sicherheit mehr bedeutet. Ganz im Gegenteil, die Kitas beschreiben, mit wie viel Aufwand diese Eltern versuchen, ihre finanziellen Sorgen geheim zu halten, weil sie sich schämen oder eine Ausgrenzung ihrer Kinder befürchten.
Ein Familienzentrum im südlichen Münsterland hat uns erlaubt, seine Beschreibung der Veränderung zu zitieren.
„Wir hatten uns in der Vergangenheit für den Profilbereich „Berufstätigkeit und zeitsensible Angebotsgestaltung“ entschieden. In diesem Profilbereich sehen wir ebenfalls viel Potenzial, niederschwellige und kostengünstige Angebote anzubieten, wie z. B. die Laternen basteln am Wochenende oder Freitag abends eine Eltern-Kind-Aktion […].
Jedoch haben wir in den letzten 4 Jahren eine Veränderung der Lebenssituation in den Familien wahrgenommen. Durch drei Jahre Coronapandemie und anderen äußeren Umständen, wie z. B. der Krieg in der Ukraine, die Zinserhöhungen, steigende Lebenshaltungskosten und die Energiekrise wurden in den Familien teilweise Geldsorgen größer und psychische Belastung stärker. Diese äußeren Umstände wirkten sich vor allem auf die Kinder aus. Freizeitaktivitäten wurden eingeschränkt oder konnten gar nicht mehr stattfinden und auch der ganz normale Alltag in den Familien und insbesondere der der Kinder waren von Sorgen und Herausforderungen belastet.
Dieser Lebenssituation geschuldet haben wir uns zusammengesetzt und unseren Profilbereich reflektiert und angepasst. Daher kamen wir zu dem Ergebnis, dass der Profilbereich 4F Familienbegleitung heute besser zu uns passt, um Familien bestmöglich begleiten und unterstützen zu können.“
Seit Corona ist deutlich geworden: die Kitas sind ein Spiegel für die Gesellschaft. Diese Entwicklung ist ein deutliches Warnsignal!
Ein Beitrag von Petra Lahrkamp, Mitglied der DGSF-nak-Gruppe
Kinderarmut - Belastungsfaktoren erkennen und bekämpfen
Kinderarmut stellt in Deutschland ein zentrales gesellschaftliches Problem dar. Aktuell gilt etwa jedes fünfte Kind als armutsgefährdet. Diese jungen Menschen wachsen in Familien auf, deren geringes Einkommen dazu führt, dass ihnen der Zugang zu vielen Ressourcen strukturell erschwert wird.

Auswirkungen von Kinderarmut:
• Bildungsbenachteiligung: Armut beeinflusst die kognitive und schulische Entwicklung. Insbesondere, wenn weitere Belastungsfaktoren in Familien hinzukommen, erschwert dies die Chancen auf erfolgreiche Bildungskarrieren.
• Soziale Ausgrenzung: Kinder in Armutslagen droht soziale Isolation. Sie können weniger an Aktivitäten teilnehmen und haben eingeschränkten Zugang zu sozialen Netzwerken, was ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt.
• Weitere Belastungsfaktoren: Armut tritt selten als isolierter Belastungsfaktor auf. Kommen in Familiensystemen weitere Belastungsfaktoren hinzu (z.B. Trennung/Scheidung, Erkrankungen der Eltern) hat dies mitunter erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung junger Menschen in allen Bereichen.
Hierfür steht die Fachgruppe systemische Kinder- und Jugendhilfe:
• Stärkung der sozialen Sicherungssysteme: Es ist notwendig, die finanzielle Unterstützung für Familien zu erhöhen, um ein existenzsicherndes Einkommen zu gewährleisten.
• Förderung von Bildung und Teilhabe: Der Ausbau von kostenfreien Bildungs- und Freizeitangeboten ist essenziell, um Chancengleichheit und Inklusion zu fördern.
• Gezielte Gesundheitsförderung: Der Zugang zu präventiven Gesundheitsdiensten und psychosozialer Unterstützung sollte für junge Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft sichergestellt werden.
• Unabhängigkeit des Schulsystems vom Elterneinkommen: Klassenfahrt, Klassenfest, zusätzliches Material, Kopierkosten. Das Schulsystem setzt stark auf die finanzielle Mitwirkung von Eltern. Dies führt dazu, dass bereits früh Erfahrungen von Stigmatisierung eintreten können. Schulbildung muss unabhängig vom Elterneinkommen stattfinden.
Es ist entscheidend, dass Politik, Gesellschaft und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe gemeinsam daran arbeiten, die Lebensbedingungen von Kindern in Armutslagen zu verbessern und ihnen gleiche Chancen sowie ein stigmatisierungsfreies Umfeld für eine positive Entwicklung zu bieten.
Ein Beitrag von Laura Stach, Fachgruppe Systemische Kinder- und Jugendhilfe
Quelle:
Schattenbericht 2025: Armut in Deutschland; online abrufbar unter: https://www.nationale-armutskonferenz.de/wp-content/uploads/Schattenbericht-2025.pdf