Antonia Drews im Interview
Was ist systemische Organisationsentwicklung? Anlässlich der Patenschaft im New Work Glossar von Neue Narrative haben wir DGSF-Mitglieder zu ihrem Verständnis von systemischer Organisationsentwicklung befragt.
Was bedeutet für dich systemische Organisationsberatung / Organisationsentwicklung, Antonia Drews?

Organisationen sind lebendige soziale Systeme, sie „atmen“ durch Entscheidungen. Dabei sind sind die mehr als die Summe ihrer Mitglieder und deren Psyche, sondern Orte, in denen sich Interessenskonflikte und Widersprüche entfalten können (und müssen). Dieser Blick auf Organisationen macht für mich systemische Organisationsentwicklung aus. Sie stiftet dann einen Mehrwert, wenn sie dabei hilft, Strukturen und Prozesse zu schaffen, die Beziehungen stärken und gelingende Zusammenarbeit wahrscheinlicher macht.
Was ist für dich "der Kern" des Systemischen?
Der Kern liegt im Beziehungsdenken: Nichts geschieht isoliert, alles entsteht in einem Kontext. In Organisationen heißt das: Konflikte, Innovation und Krisen sind nie das Werk Einzelner, sondern Ausdruck von Wechselwirkungen. Muster von Kommunikation und Entscheidungswegen prägen Verhalten stärker als individuelle Eigenschaften. Deswegen ist es so wichtig, diese Strukturen sichtbar und damit gestaltbar zu machen.
Was ist systemische Organisationsentwicklung NICHT? Was unterscheidet das Systemische von anderen Beratungsansätzen?
Systemische Organisationsentwicklung ist keine Toolbox, um individuelle Anpassungsleistung und Effizienz zu steigern. Es geht nicht darum, Individuen durch Resilienztrainings fit für schlechte Arbeitsbedingungen zu machen, sondern Strukturen so zu gestalten, dass sie gesundes Arbeiten ermöglichen. Anders als lineare Ansätze setzt sie nicht auf fertige Lösungen, sondern auf Dialog und gemeinsames Entdecken von Alternativen. Spannungen, Mehrdeutigkeiten und Widersprüche gelten dabei nicht als Störungen, sondern als Ressource für Entwicklung.
Was ist der Nutzen systemischer Organisationsentwicklung?
Ihr Nutzen liegt in der Stärkung organisationaler Reflexionsfähigkeit. Sie hilft, Unsicherheit und Paradoxien nicht wegzudrücken, sondern produktiv zu nutzen. So entsteht die Fähigkeit, tragfähige Entscheidungen auch dort zu treffen, wo es keine einfachen Antworten gibt.
Worin besteht der Zusammenhang von systemischer Organisationsentwicklung, systemischer Beratung, Therapie und systemischer Sozialarbeit?
Allen systemischen Praxisfeldern gemein ist der Blick auf Wechselwirkungen, nicht auf isolierte Individuen. Wie Menschen sich verhalten und was sie miteinander erzeugen wird nur ihre Beziehungen und Umwelten verstehbar. Unterschiede liegen im Setting und der Zielsetzung: In der Therapie steht das individuelle Erleben im Vordergrund, in der Organisationsentwicklung kollektives Handeln. Wo mir einige Organisationsentwickler:innen versprechen würden: Fürsorge ist ein verbindendes Element aller Bereiche — in der Therapie geht es um fürsorgliche Räume für persönliche Entwicklung, in der Sozialarbeit um soziale Teilhabe, und in der Organisationsentwicklung um Strukturen, die kollektive Fürsorge ermöglichen.
Wozu ist es sinnvoll, sich in der DGSF gemeinsam zu organisieren?
Die DGSF ist im Jahr 2000 aus der Zusammenführung zweier großer Fachverbände hervorgegangen: der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie, die seit den 1970er-Jahren Familientherapie und psychosoziale Praxis in Deutschland geprägt hat, und des Dachverbands für Familientherapie und systemisches Arbeiten, der vor allem Standards für Weiterbildung und Professionalisierung entwickelt hat. In diesem Zusammenschluss steckt der bis heute prägende Versuch, unterschiedliche Professionen – von Sozialer Arbeit über Psychologie bis Medizin und Pädagogik – durch eine gemeinsame systemische Perspektive zu verbinden. Sich hier zu organisieren bedeutet, Teil einer Fachgesellschaft zu sein, die interdisziplinär arbeitet, Wissen teilt und berufspolitisch wirksam ist. Das finde ich sehr wertvoll!
Antonia Drews (sie/ihr) ist promovierte Psychologin. Als systemische Supervisorin und Beraterin unterstützt sie Führungskräfte, Teams und Organisationen aus Wirtschaft, Politik, Bildung sowie Kunst- und Kultur in der Gestaltung von Veränderung und berät zu Themen wie u. a. Umgang mit Dilemmata, Intuition und Kreativität sowie Führungskultur. Mit dem 2024 gegründeten Ministerium für Freundschaft forscht sie zu fürsorglicher Praxis in Beziehungen und Gesellschaft, schreibt und diskutiert in Fachzeitschriften und Audioformaten. In selbstständiger Praxis begleitet sie Einzelpersonen und Paare in Entwicklungsprozessen als Systemische Therapeutin und Systemische Paar- und Sexualtherapeutin.
